Drei goldene Regeln des Übersetzerhandwerks

Lesung mit Ilma Rakusa, die über ihre Übersetzungen der russischen Lyrikerin Marina Cvetajeva spricht

Ilma Rakusa, ein nicht unbekannter Name: Dozentin an der Züricher Universität, Autorin und Übersetzerin, die nicht nur aus dem Russischen literarische Texte ins Deutsche überträgt, sondern auch aus den südslavischen Sprachen, dem Ungarischen und Französischen. 1998 wurde sie mit dem „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ ausgezeichnet.

Diese mir bekannten Stichpunkte machten mich äußerst neugierig auf die Frau, die verschiedene Sprachen aus drei unterschiedlichen Sprachfamilien beherrscht und vergleichen kann, die nicht nur Literatur analysiert, sondern auch selbst verfaßt – „eine gefährliche Kombination“ wurde an der Universität gewarnt -, eine Frau, die mir als Literaturexpertin von anderen Literaturexperten empfohlen worden war. Was kann man von einer Übersetzerin in einer Lesung über das Übersetzen erfahren, wenn man selbst mit dem Gedanken spielt, Übersetzerin zu werden?

Gespannt erwartete ich, wie Ilma Rakusa wirken würde. Wird sie zu denen gehören, die, bewußt ihrer Fähigkeiten, über allem hinwegschweben und das Gefühl vermitteln, nie in diese Sphären gelangen zu können, oder eher zu denen, denen man schon, bevor man sie erblickt hat, ansieht, daß sie nichts anderes kennen als Bücher, Bücherregale und dazwischen den eigenen Schreibtisch? Erleichtert stellte ich fest, daß Frau Rakusa weder der ersten noch der zweiten noch irgendeiner anderen Gruppe angehört. Sie rief in mir vielmehr eine Assoziation zur antiken Helena hervor, der es trotz ihrer feinen, zerbrechlich wirkenden Schönheit nicht an Zielstrebigkeit, Ausdauer und Durchsetzungskraft mangelt. Selbstbewußt, aber nicht herablassend, fesselte Ilma Rakusa ihr zahlreich erschienenes Publikum vom ersten Augenblick an.

Bevor sie über ihre Erfahrungen mit den Texten Marina Cvetajevas sprach, rezitierte sie ihren Essay zum Übersetzen Zwischen Einfühlung und Distanz, den sie mit einer persönlichen Regel einleitete:

„Man muß Schwerpunkte setzen:
Entweder man schreibt oder übersetzt!
Beides zusammen geht nicht!“

Der Essay knüpfte an diese Regel an, denn er breitete ein ganzes Regelwerk zum guten Übersetzen aus. Sein erster Lehrsatz lautete:

„Der musikalische Ton der Ausgangssprache ist in einer guten Übersetzung zu treffen!“

Keine Frage: hier handelt es sich um Filigranarbeit. Denn wie sonst läßt sich insbesondere poetische Prosa, die vollgestopft ist mit Ellipsen, Stakkatos, Syno- und (noch viel schlimmer mit) Homonymien übersetzen, in der die Figura etymologica nicht nur vereinzelt auftritt und deren Syntax sich ganz und gar nicht in die deutsche Sätze übertragen lassen will? Wie sonst gehen Unbestimmtheitsstellen nicht verloren?

Der zweite Lehrsatz ist mehr als nur ein Lehrsatz, denn er wendet sich gegen jegliche Formen eines beim Übersetzen aufkommenden Fatalismus:

„Nichts ist unübersetzbar!“

Auch wenn die deutsche Sprache rhetorisch ärmer als so manch andere indogermanische Sprachen zu sein scheint, auch wenn sie schwerfälliger und länger als andere Sprachen wirkt, müssen Übersetzungen ins Deutsche nicht mehr Raum einnehmen als die Originaltexte. Aber, warnt Frau Rakusa, man soll nicht alles um jeden Preis übersetzen, denn wie lächerlich würde ein Text von Puschkin im Deutschen klingen, wenn man jedes Väterchen, jedes Gärtchen und Sträuchlein, jedes Frauchen und jedes Kindchen übernehmen würde. Also, versuche nicht, jede Eigenheit einer Sprache zu der Eigenheit der deutschen Sprache zu machen!

Alle diese Lehrsätze beantworten jedoch nicht die wohl wichtigste Frage: „Was will ich übersetzen?“ Grundlegend ist natürlich zum einen ein gutes Verstehen des Textes bzw. seiner Sprache und zum anderen die nötige Sprachkompetenz in der Zielsprache. Erst dann kann die Affinität zu einem Werk den Drang im Übersetzer wecken, das Werk nachzudichten. Dieser Drang wählt den zu übersetzenden Text aus. Doch, warnt Frau Rakusa abschließend, man soll nicht die Tugenden des Übersetzers

„Unterordnung und Disziplin“

vergessen. Denn sie bewahren den Übersetzer davor, seinen eigenen Ton zu sehr in die Nachahmung einfließen zu lassen.

Um dieses Regelwerk zu veranschaulichen, las Frau Rakusa Ausschnitte aus ihren Übersetzungen der poetischen Prosa Marina Cvetaevas vor. Anhand der russischen Vorlage erläuterte sie dabei besonders schwierig zu übersetzende Passagen oder ihren Versuch, den musikalischen russischen Ton so gut wie möglich nachzuahmen. Ihr Enthusiasmus dabei ließ die Zeit schneller verstreichen als ihr lieb war. Besorgt wandte sie sich immer wieder an ihre Zuhörer, ob sie müde seien. Immer wieder erhielt sie ein „Nein“. Ilma Rakusas Vortrag wurde von der ersten bis zur letzten Minute mit ebensoviel Aufmerksamkeit aufgenommen wie er mit Leidenschaft gefüllt war. Sie hätte die Zeit bestimmt mit mehr als zwei vorgetragenen und erläuterten Gedichten überziehen können. Und ich würde, wenn ich noch einmal beginnen könnte, in Zürich studieren.

18. April 2002, Haus des Buches

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