Chemie ist Magie

Würdigung des sächsischen Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald

„Das Schrifttum von Wilhelm Ostwald wird auf 40.000 Seiten im Lexikondruck geschätzt. Wollte man Ostwalds Schriften also vollständig lesen, müsste man 55 Jahre lang täglich zwei von ihm beschriebene Seiten lesen.“ Aus heutiger Sicht erscheint das, worauf Grit Kalies zu Beginn ihres Vortrags aufmerksam macht, eher verdächtig. Bei einem Vielschreiber erwarten wir nicht mehr die Vielseitigkeit, die für Wilhelm Ostwald tatsächlich noch charakteristisch ist: „Angesichts der Quantität seiner Arbeiten und der Vielfalt seiner Interessen und Themen verwundert es nicht, wenn ab und an geäußert wird, Ostwald müsse mindestens drei Leben gehabt haben: eines als Chemiker, eines als Philosoph und eines als Farbforscher.“ Als Maler betätigte er sich ebenfalls.

Frau Kalies, so kündigte der Moderator Reiner Tetzner zu Beginn an, habe man den Festvortrag anvertraut, weil die promovierte Chemikerin und Absolventin des Deutschen Literaturinstituts auf ähnlich vielfältige Weise sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Schriftstellerin tätig sei. Kalies bedachte in ihren klaren und lebendigen Ausführungen dann auch beides, die gelehrten wie die künstlerischen Fähigkeiten Ostwalds.

Für Ostwald, den Professor für Chemie, der 1887 nach Leipzig berufen wurde und 1909 den Nobelpreis für Chemie erhielt, galt die Maxime: „Zahllose Dinge sind unerforscht, aber nichts ist unerforschlich.“ Die Welt war für ihn ein großes „Meer der Unwissenheit“, aus dem kleine vereinzelte, aber immer häufiger auftauchende Inseln der Erkenntnis dem Weltumsegler die Gewissheit geben würden, dass tief unter dem Meeresspiegel alles epistemologische Festland miteinander verbunden sei.

Am liebsten hätte sie sich in ihrem Vortrag auf die schriftstellerischen und didaktischen Fähigkeiten Ostwalds konzentriert, bekannte Grit Kalies, auf seine Sprache, die „flüssig, anschaulich und oft poetisch, wenn auch zuweilen überbetont sendungssicher“ sei. Nicht umsonst war sein Lieblingsautor (wie bei so vielen Naturwissenschaftlern dieser Zeit) Goethe.

Aber der Künstler im Chemiker zeigte sich eigentlich in einem anderen Zug, den Ostwald selbst dadurch charakterisierte, dass er sich dem Typus des „romantischen Wissenschaftlers“ zurechnete. Dieser könne, im Gegensatz zum „klassischen Typ“ (der jeden Gedanken gründlich und systematisch ausarbeitet) „nicht jedem Gedanken die volle Pflege angedeihen lassen, sondern sende sie vielfach halbfertig in die Welt“. Ostwald begründet das damit, dass, wie er über sich selbst schreibt, „ich, kaum auf fruchtbaren Boden angewurzelt, alsbald Wurzelausläufer von dort weitersenden muss, um neue Wachstumsgebiete anzulegen.“

Sein überquellender Geist ließ seine Forschungen und Aktivitäten über sein Fachgebiet hinaustreten. Mit der „Energetik“ begründete er eine philosophische Weltanschauung, die auf seiner Faszination von der klassischen Thermodynamik beruhte, insbesondere vom 2. Hauptsatz der Thermodynamik. In seinem „energetischen Imperativ“ („Verschwende keine Energie, verwerte sie!“ – was Grit Kalies als Aufforderung zum Kampf der ordnenden Kräfte gegen die Unerbittlichkeit der wachsenden Entropie, der irreversiblen Richtung des Zeitpfeils von Ordnung zu Unordnung erläuterte) wandelt sich das Wissen um die Thermodynamik in Sittlichkeit.

Bei nicht wenigen seiner Kollegen trug ihm sein Ideenreichtum den Ruf eines „Fantasten“ ein, und seine „energetische Theorie des Glücks“ zum Beispiel galt als eurozentristische „Sichtweise eines tatendurstigen Westeuropäers“. Aber wenn man bedenkt – und das sagt jetzt ein aufmerksamer Hörer -, in welchem Maße und mit welcher Kraft sich Ostwald für seine Ideale engagierte, wieviel er in Bewegung gesetzt und erhalten hat, so erscheint sein Schaffen weitreichender und sympathischer als das von so vielen Wissenschafts-Spezialisten der heutigen Zeit, die ihre wenigen Ideen so lange ausbrüten, bis sie ihnen unter dem Hintern wegsterben.

Nach dem Vortrag von Grit Kalies plauderte die leibhaftige Enkelin Ostwalds, Frau Brauer, u.a. über Ostwalds Malerei (was in der Ausführlichkeit wohl nicht geplant, aber dennoch herzlich willkommen war). „Heut hab ich elf Bilder gemalt“, schrieb der Meister nach Hause, was seinen künstlerischen Fleiß dokumentiert, mit dem er „seine überanstrengte linke Gehirnhälfte zu entlasten versuchte“. Aber selbst dabei konnte er es nicht lassen, synästhetische Versuche durchzuführen. Wie Frau Brauer erklärte, seien etliche „Blumenbilder“ Ostwalds nur als Experimente zu verstehen, musikalische Harmonien im Kopf des Malers in farbliche Harmonien auf dem Papier zu transkribieren.

Mittlerweile war bereits eine ganze Stunde vergangen, die Luft etwas dicker, die Ordnung im Kopf nur mühsam im Kampf gegen die Entropie aufrecht zu erhalten (Müdigkeit!). Da begann erst die eigentliche Lesung.

Thomas Böhme eröffnete den Dichterreigen mit einem „Prosagedicht“, das sich auf „skurrile, mythische“ Weise mit Farben beschäftigte und Ostwald gewidmet ist. Es ist erstaunlich, mit welch bunten Bildern es Böhme darin gelingt, „alte graue Erdfarben“ zu beschreiben, um sie – in Analogie zu alten, vergilbten Fotografien aus den Kindheitsjahren dieser abbildenden Kunst – als Sinnbild einer mythischen Vorzeit darzustellen. Diese Zeit und diese Farben werden nun durch neue Bilder und neue, buntere Farben vertrieben (und natürlich durch neue, buntere Verse), die von neuen, bunteren Göttern „im Schilde“ geführt werden, um letztendlich nach „mancher Götterdämmerung“ nichts als „Farbfetzen“ und „Verwirrung“ zurückzulassen.

Nun folgte Text auf Text und der Zeitpfeil zeigte immer unbarmherziger in die entropisch vorgeschriebene Richtung (Ordnung => Unordnung), die Müdigkeitspartikel füllten die Luft bis zum Sättigungsgrad, und Nachfolger Peter Gosse trat unter schwersten Voraussetzungen an, trotz schnell geöffneter Fenster. Leider nivellierte die Vortragsart seiner Gedichte jeden Ansatz einer Interpunktion, mithin jede ordnende Struktur, was eine Rezeption nach Vers und Maß unmöglich machte.

Und dennoch, einzelne Motive, denen wir schon im Vortrag über Ostwald begegnet waren, blitzten aus dem Dämmerschein des Lauschens auf. In den Texten der Unordnung berichtete Böhme davon, wie zwischen „Wasserflecken“ an einer alten Mauer „Landkarten mit allen Inseln, die versunken sind“ entstehen. Da war die Erinnerung an das „Meer der Unwissenheit“ mit den „vielen kleinen Inseln der Erkenntnis“ plötzlich da, nur dass die Inseln nicht mehr aufstiegen, sondern versunken waren. Und auch Gosse wusste in seinen Gedichten zu Steinbrüchen von aufsteigenden Wassern zu erzählen, die nur die Felsspitzen übrig ließen. Die Assoziation zu Ostwalds Meer der Unwissenheit machte auch diese Felsspitzen zu Inseln der Erkenntnis, die nun als das Ergebnis einer ansteigenden Flut von Unwissenheit erschienen.

Für Grit Kalies, als dritten Autor, schien nach nunmehr geschlagenen zwei Stunden alles zu spät. Doch sie rettete sich und das Auditorium, indem sie sich auf zwei witzige allegorische Kurzgeschichten beschränkte. Die hatten die erfrischende Wirkung eines Weckers, denn sie brachten das Publikum zum erlösenden Lachen und stahlen auf diese Weise den Herren die Show. Dieser Effekt war so enorm, dass gar noch eine Zugabe gefordert wurde: das Liebesgedicht an die Chemie oder chemische Liebesgedicht, das mit den Versen endet:

„Chemie ist Magie – eben war ich noch nass,
jetzt bin ich völlig aufgelöst.“

Chemie ist Magie, das wollen wir nach diesem Abend gern glauben, selbst wenn wir uns eine gewisse rudimentäre Skepsis gegenüber dem „energetischen Imperativ“ vorbehalten sollten.

„Mensch und Natur“ – Würdigung des sächsischen Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald und Dichterlesung anlässlich seines siebzigsten Todestages
Vortrag zu Leben und Werk: Grit Kalies
Lesung: Thomas Böhme, Peter Gosse, Grit Kalies
Moderation: Reiner Tetzner
Eine Veranstaltung des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie e.V. in Zusammenarbeit mit der Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft und dem Ostwald-Archiv/Gedenkstätte in Großbothen
23.04.2002 Haus des Buches

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