Pauschaltourismusreise ans Ende der Nacht

Michel Houellebecq predigt den Liberalismus und vergeudet dabei mitunter sein Erzähltalent

Seit den Terroranschlägen des 11. September vermelden Politiker, Medien und auch „normale“ Menschen, nichts sei jetzt noch wie zuvor. Was sich genau verändert habe seit diesem Tag aber, vermögen die meisten nicht zu sagen. In jedem Falle werden aber seit dem Einsturz der „twin towers“ nicht nur politische Reden in ein selbstreferentielles Verhältnis zum Terror der Islamisten gesetzt und auf ihren solidarischen Grundton hin überprüft. Auch die Künste, und zuvorderst die Literatur, haben sich den veränderten Weltbedingungen anzupassen. Da trifft es sich gut, daß der französische Bestseller- und Skandalautor Michel Houellebecq, 44, nun mit einem neuen Roman in deutscher Übersetzung aufwartet, der zwar lange vor dem 11. September geschrieben und in Frankreich veröffentlicht wurde, in seiner Themenwahl aber den von vielen befürchteten „clash of civilizations“, d.h. den Kampf der westlichen Welt gegen die islamisch-fundamentalistische vorwegzunehmen scheint.

Worum geht es in Plattform, Houellebecqs neuem Roman? Zunächst einmal sollte gesagt werden, daß der neue Roman wiederum eine Variation der Grundthematik ist, die der Autor auch schon in seinem Welterfolg Elementarteilchen (1998) und dem Romandebüt Die Ausweitung der Kampfzone (1994) meisterlich in langer Prosa verarbeitete: Es geht um die Einsamkeit des modernen Menschen, seine tiefe innere Verzweiflung am Arbeitsplatz, in Familie und Freizeit. Die sexuelle Frustration allerdings wiegt bei den Antihelden der Romane Houellebecqs stets am schwersten. Wie in den ersten Romanen trägt auch der Protagonist von Plattform den Namen Michel, was autobiographische Bezüge des Romans nahelegt, aber unter Umständen auch ein Spiel mit dem eigenen Image des manisch-depressiven Erfolgsschriftstellers sein könnte, wie es zum Beispiel ein unlängst im ZDF-Kulturmagazin aspekte ausgestrahltes Interview mit Houellebecq vermuten läßt.

Michel also ist ein Mann in mittleren Jahren, ungebunden, sexuell aktiv nur im Urlaub und Angestellter im Kulturministerium. Nach dem gewaltsamen Tod seines vermögenden Vaters entschließt sich Michel, eine Gruppenreise nach Thailand anzutreten, einmal um sich von der aussichtslosen Situation seines Beamtenlebens abzulenken, zum anderen aber auch, um sich in Thailand sexuell einmal richtig verwöhnen zu lassen, ohne dabei irgendwelche festeren Bindungen eingehen zu müssen. Also tritt Michel über Weihnachten und den Jahres- (in diesem Fall sogar Jahrtausend-)wechsel eine Urlaubsreise mit einer Gruppe Gleichgesinnter an: Mit ihm reisen Franzosen, Deutsche und Belgier, die entweder ausschließlich an den kulturellen Reizen des Landes interessiert sind oder aber die zweiwöchige Reise zur Befriedigung ihrer in der westlichen Welt unterdrückten Libido nutzen.

Michel gehört natürlich zur zweiteren Gruppe und nimmt die gebotenen Besuche alter Tempelanlagen und dschungelähnlicher Landschaften nur beiläufig zur Kenntnis. Der Erzähler tut es ihm in dieser Hinsicht gleich und enthält dem Leser in dem Maße landschaftliche Beschreibungen vor, in dem er ihm anatomisch korrekt und ausführlich vom Liebesspiel der Protagonisten berichtet: „Auch wenn sie noch sehr jung war, wußte sie sich ihrer Möse zu bedienen. Sie nahm mich erst sehr sanft mit kleinen Kontraktionen an der Eichel; dann ging sie mehrere Zentimeter tiefer und übte dabei einen deutlich zu spürenden Druck auf meinen Schwanz aus.“ Mit derartigen Beschreibungen, die Houellebecq in seinen ersten beiden Romanen noch weitaus sparsamer einsetzte, scheint auch der Geisteszustand des Romanhelden hinreichend dargestellt. Auf den geographischen Spuren seines literarischen Vorbildes Bardamu, der Titelgestalt eines der großen französischen Romane des 20. Jahrhunderts, nämlich Louis-Ferdinand Célines „Reise ans Ende der Nacht“, sucht Michel nicht mehr nach der Sonnenseite des Lebens wie der stets fiebrige Bardamu; Houellebecqs Antiheld fiebert nur noch nach jungen Thai-Mädchen und deren Liebeskunst.

Doch bevor diese Geschichte zu eindimensional zu geraten droht, behilft sich der Autor mit einem neuen Trick. Michel verliebt sich während des Urlaubs in die Mitreisende Valérie, eine Angestellte in der Tourismusbranche, wie er erst später erfahren wird. Erst nach dem gemeinsamen Urlaub, der sie nicht zusammenführte, lernen sich die beiden besser kennen und lieben: „>Valérie…<, sagte ich zögernd, >was findest du eigentlich an mir? Ich sehe nicht besonders gut aus und bin auch nicht besonders unterhaltsam; ich begreife nicht recht, was an mir anziehend sein soll.<„. Doch Valérie gelingt es, dem Misanthropen Michel Selbstachtung und Lebensfreude zurückzugeben. Tatsächlich schreibt Houellebecq im zweiten Teil des Romans den (fast) perfekten Liebesroman, wobei sich die Beziehung von Michel und Valérie hauptsächlich in endlos erscheinenden Sexszenen manifestiert, die den Leser durchaus glauben lassen, daß Houellebecq auch als Regisseur eines Pornofilms keine schlechte Wahl wäre.

In Wahrheit aber geht es dem Romancier um etwas anderes. Er möchte zeigen, wie brüchig Liebe und menschliche Beziehungen in der heutigen Zeit sind, und wie leicht man körperliche Nähe mit Liebe verwechseln kann. Michel und Valérie fungieren dafür als Beispiel. Angetan von den Vorzügen des Sextourismus in Thailand, entschließen sie sich dazu, über einen Bekannten Valéries in der Tourismusbranche eine Art Cluburlaub für Touristen ins Leben zu rufen. Die gemeinsame Unternehmung wird ein riesiger Geschäftserfolg, zunächst. Bei einem gemeinsamen Urlaub in einem der Clubs allerdings kommt es zur Tragödie: Islamistische Terroristen stürmen das Hotel, Valérie und andere Touristen werden erschossen, Michel überlebt schwerverletzt und dem einzigen Inhalt seines Lebens beraubt: „Jetzt habe ich den Tod verstanden; ich glaube nicht, daß er mir sehr weh tun wird. Ich habe den Haß, die Verachtung, den Verfall und verschiedene andere Dinge kennengelernt. Ich habe sogar kurze Momente der Liebe kennengelernt. Nichts von mir wird mich überleben, und ich verdiene auch nicht, daß mich etwas überlebt, ich bin mein ganzes Leben lang in jeder Hinsicht ein mittelmäßiger Mensch gewesen.“ Aus einer psychiatrischen Klinik entlassen kehrt Michel schließlich nach Thailand zurück, um noch einmal ungezügelte Sexualität zu genießen und im Kreise Gleichgesinnter schließlich sein Leben zu beenden: „Man wird mich vergessen. Man wird mich schnell vergessen.“ (S.240).

Das ist zugleich das Fazit eines Mannes, der glaubte, Liebe gefunden zu haben, und dann doch (wieder) nur Tod und Zerstörung vorfand. Houellebecqs Roman wird man im Gegensatz zu dessen Protagonisten nicht so schnell vergessen. Zwar reicht er bei weitem nicht an die Qualität der Elementarteilchen heran: Die Charaktere bleiben blaß, ihre Entwicklung wird nicht nachgezeichnet; die Handlung darf nicht als übermäßig originell bezeichnet werden; trotzdem gelingt es dem bekanntesten französischen Gegenwartsromancier wieder einmal, die Gemüter zu erhitzen. Sei es die drastische Darstellung des Geschlechtsverkehrs, die Reduzierung des menschenverachtenden Sextourismus auf ein Geschäft, an dem alle Beteiligten gut verdienen können und nicht zuletzt die Ausfälle des Autors gegen den Islam in einer Zeit, in der man sich vor Pauschalisierungen möglichst hüten sollte („Der Islam konnte nur im Stumpfsinn einer Wüste entstehen, inmitten dreckiger Beduinen, die nichts anderes zu tun hatten – entschuldigen Sie den Ausdruck -, als ihre Kamele zu ficken.“) – dies alles macht Houellebecq zu einem Provokateur, der einem neuen Realismus in der Literatur die angemessene Sprache gibt. Allein deshalb ist Plattform ein äußerst gelungener Roman, wenn auch kein ganz großer.

Der Leser, der sich auf Houellebecq einläßt, sollte wissen, was ihn erwartet. Nimmt er die verbalen Entgleisungen des Franzosen aber nicht immer allzu ernst, dann verspricht Plattform ein erstklassiges Lesevergnügen inbegriffen anschließender Kurzzeitdepression – dann nämlich, wenn man sein eigenes Dasein mit dem des Romanhelden abgleicht und gewisse Übereinstimmungen vorfinden wird.

Michel Houellebecq: Plattform
DuMont Literatur Verlag, Köln 2002
340 Seiten, 24 €

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