Fassbinder Retrospektive 1 (Marcus Erb-Szymanski)

Rainer Werner Fassbinder – Retrospektive in der Schaubühne Lindenfels mit fünfzehn Spielfilmen Fassbinders von April bis Juni 2002 „Warnung vor einer heiligen Nutte“: eine Nachtwache vor der Kunst

Im Grunde genommen ist es ein Film über das Warten. Der Zuschauer teilt von der ersten Minute an die Ungeduld der Protagonisten auf der Leinwand: Ein Ensemble von Schauspielern, das auch privat eine Kommune bildet (mit sehr bizarren Einzelexemplaren), wartet fern der Heimat, irgendwo im Süden (Spanien), auf den Drehbeginn, wartet auf die Fördergelder aus Deutschland und wartet vor allem auf den Regisseur. Er ist die große Hoffnung, denn von ihm erwartet man sich die Antwort auf die Frage, was eigentlich – und dies nun auch im übertragenen Sinne – gespielt wird.

Und solange man der Dinge harrt, die da kommen mögen, vertreibt man sich die Zeit mit Trinken und mit Bäumchen-wechsle-dich-Spielchen. Dabei wirft die scheinbare Beliebigkeit der Partner (einschließlich ihres Geschlechts) ein bezeichnendes Licht auf die Trostlosigkeit des individuellen emotionalen Befindens, zeigt aber andererseits auch, welch Intimität und Vertrautheit in der Gruppe herrscht. Hat am Abend, wenn die Dämmerung einsetzt, jedes Töpfchen seinen passenden oder unpassenden Deckel gefunden und sind diejenigen, die sich aus diesem Bund stehlen müssen und an die Bar retten, wenigstens richtig betrunken, ist das Tagwerk des Künstlers vollbracht.

Spätestens bei Ankunft des Regisseurs „Jeff“ bekommt das Warten eine existentielle Dimension. Dieser fühlt sich völlig überfordert damit, dem Leben der anderen einen Sinn zu geben. Zwar hat er die Idee zu einem Film und wohl auch die Mittel, ihn zu realisieren (wenngleich auf Kosten der Schauspieler, für deren Gage die Mittel nicht reichen), aber er hat keine Idee, inwieweit ein guter Film den „Machern“ des Films eine sinnvolle Existenz garantiert. Sein Zweifel, dass die filmische Muse (deren Inkarnation einmal mehr Hanna Schygulla ist) ihre Künstler jemals aus einem entfremdeten Leben retten könne, löst die Ambivalenz seines grundsätzlichen ästhetischen Fühlens und Glaubens aus und ist ihm zugleich Grund für eine tiefe Verzweiflung.

„Ich bin es leid, das Menschliche darstellen zu müssen, ohne am Menschlichen teilzuhaben.“ Diesen Ausspruch von Thomas Mann schickt Fassbinder in großen Lettern auf der Leinwand seinem Film nach und Hanna Schygulla lässt er sagen: die Verzweiflung sei das Einzige, was die Kunst am Leben erhalte. Dabei aber wirft sich die Kunst in ihrer heiligen Unschuld gleich der schönen Hanna jedem Erstbesten an den Hals.

Jeff benimmt sich wie eine blonde Bestie. Den Frauen redet er ein, sie heiraten und mit ihnen nach Südamerika gehen zu wollen, damit sie bei ihm und der Truppe bleiben. Den Männern begegnet er als ein launischer Diktator, der Besitzansprüche anmeldet sowohl gegenüber ihren Frauen, als auch mitunter gegenüber ihnen selbst. Und doch scheinen alle ihn zu lieben, teils als Identifikationsfigur ihres künstlerischen Seins, teils auch ganz unmittelbar als Person. Anders jedenfalls ist die Tatsache, dass es für jeden die höchste Ehre bedeutet, mit dem Chef das Bett zu teilen, nicht zu erklären.

Doch Jeff ist, wie gesagt, den Erwartungen und Hoffnungen, die auf ihm ruhen, nicht gewachsen. Als der Godot der Wartenden, der als einziger weiß, wer wann was zu spielen hat, ist er heillos überfordert. Der einzige Halt, der ihm bleibt, ist der nicht zur Kommune gehörende Eddie Constantine, der als Hauptdarsteller mit der unbeweglichen Miene und den unentdeckbaren Gefühlen ein klein wenig Sicherheit gibt. Und dennoch: Jeff gelingt es, seine filmische Idee zu realisieren und seine tiefen Zweifel an der Kunst in diese einfließen zu lassen. Am Ende sieht der Zuschauer, der als Mitwartender in seiner Geduld arg strapaziert wird, als Ergebnis jenes anderhalbstündigen Blicks hinter den Vorhang der Seele des Fassbinder-Teams eine kurze Film-Sequenz. Und diese Sequenz enthält alle Elemente des typischen Fassbinder-Films. (Ob der Film jemals zu Ende gedreht wird, bleibt allerdings unbeantwortet.)

Insofern liegt natürlich die Vermutung nahe, Fassbinder habe mit der „heiligen Nutte“ ein Selbstporträt geschaffen. Der Regisseur Alexander Kluge, Initiator des „Oberhausener Manifests“ und mehr als einmal Co-Regisseur Fassbinders, hat diesen Film einen „Inzestfilm“ genannt. Doch diese Interpretation greift zu kurz. Ein Regisseur wie Fassbinder dreht keinen Film nur über sich selbst. Bei ihm ist jeder Darstellung eines eventuell persönlichen Problems eine Verallgemeinerung ins Grundsätzliche. Fassbinder selbst, angesprochen auf die Bezeichnung „Inzestfilm“, meinte, wenn „Warnung vor einer heiligen Nutte“ ein „Inzestfilm“ sei, dann seien alle seine Filme „Inzestfilme“.

Was den Film letztendlich zu Kunstwerk macht, ist ohnehin nicht eine Idee, über die man sich im Nachhinein ausgiebig verbreiten kann, sondern es ist die unbeschreibliche Perfektion und Genialität der Gestaltung im Detail. Mit Staunen erlebt der Zuschauer die Besessenheit, mit der Faßbinder und sein Ensemble jede Geste, jede Einstellung, jedes Wort bis ins Letzte ausfeilen, mit welcher Genauigkeit und Konstruktivität sie die Entfremdung des modernen Menschen darstellen. So möchte man in einem ganz alten Modus des geteilten ästhetischen Empfindens klagen über den Inhalt und jubilieren über die Form der filmischen Darstellung. Letztendlich ist alles gesagt mit der Bemerkung: Fassbinder ist einmalig und im deutschen Raum unerreicht!(Marcus Erb-Szymanski)

Die Retrospektive in der Schaubühne wird in den Monaten Mai und Juni mit zahlreichen Filmen und einer Lesung mit Fassbinder-Texten am 26.5.2002 fortgesetzt. Wir werden diese Reihe im Leipzig-Almanach mit weiteren Besprechungen begleiten.

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