Fortsetzung der Filmreihe: American Outlaw Cinema (Bernhard Brandner)

Fortsetzung der Filmreihe American Outlaw Cinema, Filmkunsthaus naTo, 30.4. / 1.5.2002
Streifzüge in die Pornofarbrik Hollywood

Im Byrd Theater in Richmond, Virginia steht die Zeit still. Wer ein Ticket erwirbt, betritt – um Abendgarderobe wird gebeten – die schillernde Welt des „alten“ Hollywood Glamour. Marmorboden und rote Läufer im Foyer, der Saal selbst in prunkvoller Eleganz mit Kronleuchtern und Sitzen aus rotem Samt. Kartenverkäufer, Platzanweiser und Zigarettenmädchen sind livriert. Seit Jahrzehnten läuft Donnerstags Casablanca und Der Malteser Falke.

Ich habe mich an einem Donnerstag vor einigen Jahren nicht in diesen Taxedo gezwängt, um einen der beiden Filme zu sehen – beide stehen in meinem Videoregal. Es ging mir eher um die Illusion, die mir da angeboten wurde. Das Märchen von einer sauberen, politisch korrekten Welt, in der Namen wie Fritz Lang, Peter Lorre, Michael Curtiz und Charles Chaplin den Olymp füllen. Eine Welt, die in der Regel entweder mit einem Western oder mit einem der naiv-romantischen Frühwerke eines Georges Melis beginnt. Wenn wir die Geschichte des Kinos oberflächlich betrachten, ist an diesem Bild nichts auszusetzen.

Gehören Sie auch zu den Leuten, die das glauben? Haben Sie sich schon einmal gefragt, wieso die bewegten Bilder bald nach den ersten Vorführungen als schmuddeliger Schund verschrien waren, warum es sich für anständige Damen der Gesellschaft nicht schickte, auch nur darüber „gehört“ zu haben? Was kann so verwerflich daran sein, einen Western gesehen oder etwas über Georges Melis gehört zu haben?

Irren sich unsere Filmhistoriker?
Unmöglich!
Dann bleibt nur noch eins – sie haben uns etwas verheimlicht!

Stellen Sie sich folgende Szene vor:
Ein dunkler Saal, zur Hälfte gefüllt mit Männern aller Gesellschaftsschichten, einzeln oder in losen Grüppchen zusammenstehend. Die Luft ist schwer, eine undefinierbare Mischung verschiedenster Tabaksorten und Schweiß. Die Geräuschkulisse setzt sich aus dem kontinuierlichen Rattern eines Projektors und gelegentlich halblaut eingeworfenen Kommentaren aus dem Publikum zusammen, die mit etwas zu lautem Lachen quittiert werden. Einzige Lichtquelle ist besagter ratternder Projektor, der eine Folge von Bildern an eine kleine Leinwand wirft…

Wenden wir uns der Leinwand zu, um zu ergründen, was da so markig moderiert wird: Eine junge Frau kniet auf dem Boden, ihr Rock ist zufällig, wie Röcke das so an sich haben, über ihre Hüften nach oben gerutscht, was uns freien Blick auf Gesäß und Scham gewährt. Vor ihr steht ein nicht ganz so junger, auch nicht ganz so schlanker Herr, dessen Hose in genau die andere Richtung verrutscht ist. Allerdings scheint ihn das nicht weiter zu stören, er ist zu sehr damit beschäftigt, sein eregiertes Glied rhythmisch zwischen den Lippen der vor ihm knieenden Schönheit zu bewegen. Nach einiger Zeit betritt ein zweiter Mann von ähnlicher Statur die Szene. Kurzerhand paßt er sich den vorherrschenden modischen Zwängen – man trägt die Hose unten! – an, um sich sodann eingehend mit den anatomischen Gegebenheiten der verbleibenden Körperöffnungen der (noch immer knienden) jungen Dame zu beschäftigen…

„Nichts außergewöhnliches“, werden Sie sagen – das sieht man in jedem x-beliebigen aki-Kino an jedem x-beliebigen Hauptbahnhof. Vielleicht ist es nicht einmal außergewöhnlich, daß sich eben diese Szene irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts bereits genau so abgespielt hat. Nicht in einem Non-Stop-Kino, sondern eher im Hinterzimmer eines Herrenclubs oder in einem unauffälligen Zelt am Rand des Jahrmarkts.

Glauben Sie immer noch an Georges Melis?

Es soll hier nicht der Streit aufgewärmt werden, welches Filmgewerbe nun das älteste der Welt ist. Die meisten der heute noch gängigen Genres waren relativ früh im Film vertreten und paßten sich über die Jahre und Jahrzehnte einer sich entwickelnden Gesellschaft an. Bis auf eine Ausnahme. Ironischerweise ist es eines der frühesten Filmgenres, das sich über mehr als hundert Jahre in seiner Aufmachung so gut wie gar nicht geändert hat – der Pornofilm, dem der zweite Abend des „American Outlaw Cinema“ gewidmet ist.

Johannes Schönherr zeigte uns mit seinen Blue Movie Bacchanalia einen repräsentativen Querschnitt über den klassischen amerikanischen Sexfilm vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die späten Sechziger Jahre und beleuchtet so die dunkle Seite der Traumfabrik. Bis zur Legalisierung der Pornographie in den Siebziger Jahren wurde das Drehen und Vorführen dieser Streifen schwer geahndet. Die Namen der Produzenten und Akteure sind, wenn sie jemals bekannt waren, längst vergessen. Es waren schnell und heimlich produzierte Filme, die ebenso schnell und heimlich vorgeführt wurden. Die Streifen blieben meistens stumm, auf musikalische Untermalung wurde verzichtet. ?Die hat das Publikum dann schon selber untermalt?, meint Schönherr grinsend dazu. Wir sehen überraschend Zeitloses: Penetrationen in allen möglichen und unmöglichen Stellungen (wer hat wohl diese Leiter mitten im Raum stehen lassen), wir sehen Threesomes in allen erdenklichen Variationen, sehen Männer mit Frauen, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen. Frauen mit Hunden, Frauen mit Aalen (wer hat diesem Aal das Kondom übergestülpt und vor allem: wozu???), wir sehen Bondage, wir sehen Fetish. Scheinbar hat sich nichts geändert…

Wir sehen aber auch ein oder zwei Mal bullige Kerle in dezenten Anzügen am Bildrand stehen, die die Akteure wieder vor die Kamera schubsen, sobald diese das Bild verlassen wollen und wir sehen am Gesichtsausdruck der Darsteller, daß sie hier nicht wirklich ihrem Hobby frönen. Der Satz: „Ich war jung und brauchte das Geld!“, bekommt angesichts dieser Streifen neue Dimensionen. „Ich war jung und es ging um mein Leben!“, wäre vielleicht an der einen oder anderen Stelle angebrachter.

Die wahren Macher des Roadshow-Cinema waren Kriminelle, die meisten von ihnen der Cosa Nostra oder Yakuza unterworfen. Aber selbst das ist nichts Neues. Das organisierte Verbrechen verstand es schon immer, die illegalen Bedürfnisse einer intakten, sauberen Gesellschaft diskret zu befriedigen – Prostitution, Alkohol, Drogen…

…und Pornos.

Wenn ich San Francisco Art Institute höre, denke ich an innovative moderne Kunst und gewagte Performances im Zeichen der ausgehenden Flower Power Ära, die langsam beginnt, sich selbst in Frage zu stellen. Aber Pornos? „Man!“, grinst mich Dennis Nyback, Host des dritten Abends, im Vorbeigehen an und unterstreicht seine Worte mit einer ausschweifenden Geste der linken Hand, „Basically every movie coming out of the San Francisco Art Institute at that time was porno! But they actually were trying hard to make them art!“ Einer der wenigen SFAI-Regisseure der tatsächlich eine erfolgreiche Verbindung aus Kunst und Pornographie zustande brachte war Curt McDowell. Exemplarisch für diese scheinbar unmögliche Konstellation steht sein Thundercrack! (1976) als zweiter Beitrag des Abends auf dem Programm. Schönherr hält seine Einführung zum Films so knapp wie möglich und läßt Thundercrack! für sich selbst sprechen.

In körnigem Schwarzweiß erzählt er die Ereignisse um eine Gruppe von Menschen, die sich in einer Gewitternacht in dem einsamen Landsitz Prarie Blossom zusammenfinden. Blitze, Donner, durch Bilder maskierte Gucklöcher in der Wand, eine abgeschlossene Tür und ein unausgesprochenes Geheimnis dahinter – alles erinnert an klassische Haunted-House-Filme – la James Whale, wäre da nicht die Sache mit dem „Zusammenfinden“, das hauptsächlich in einem Hinterzimmer stattfindet – unter Zuhilfenahme von Dildos, Gummipuppen und Tonnen von Gleitmittel.

Die Charaktere kompensieren ihre Verlorenheit und Ziellosigkeit durch scheinbar grenzenlose Experimentierfreudigkeit. McDowell hat die Zeichen seiner Zeit erkannt und wirft sie uns eins nach dem anderen an den Kopf, ohne dabei auf das eine oder andere humorvolle Augenzwinkern zu verzichten. „Tastes kinda fishy“, sagt eine der Akteurinnen beim Genuß einer Salatgurke, die kurz zuvor von Ihrer Tischnachbarin ein wenig zweckentfremdet wurde. In all der Tristess und versoffenen Einsamkeit von Prairie Blossom läßt McDowell sein Publikum nicht allein – am Ende finden sich tatsächlich zwei Pärchen, die das Anwesen in Richtung einer ungewissen, aber durchaus hoffnungsvollen Zukunft verlassen.

„God sent me to produce porno!“, beschrieb der 1945 in Indiana geborene homosexuelle Regisseur seinen Werdegang in einem einzigen, treffenden Satz. Curt McDowell starb am 3. Juni 1987 in San Francisco an AIDS und hinterließ ein kontroverses Gesamtwerk, das die einen Pornographie, die anderen Kunst nennen. Vielleicht haben beide Recht!

Ich traf Dennis Nyback zum ersten Mal vor etwa 10 Jahren, als er im Münchner Werkstattkino einen Querschnitt seiner Sammlung von in Europa verbotenen „Loony Tunes & Merry Melodies“ zeigte und ich glaube, daß er auch damals dieses dunkelbraune Fischgrätsakko mit den durchlöcherten Ellenbogen trug. Nyman hat sich und sein Leben voll und ganz der Roadshow verschrieben. Er ist nirgendwo zuhause, seine Filme lagern bei Freunden und Bekannten und er selbst ist immer auf der Suche nach neuen alten Versatzstücken des „anderen“ Hollywood, wenn er sie nicht gerade, wie am 1. Mai vorführt.

Diesmal in seinem Gepäck Not Intended For Laughs – Cartoons For Crowd & Pest Control, ein Zusammenschnitt über den Animationsfilm fern von Disney und Kinderkanal. Conception And Contraception, ein kanadischer Aufklärungsfilm von 1970 zeigt uns in grenzenlos komischer Seriosität alles, was wir schon immer über Verhütung sehen wollten am Querschnittsbild der kopulierenden Partner – vom Kondom bis hin zur Vasektomie und Sterilisation. My Turtle Boxer Died lehrte den Schulkindern der 50er Jahre verantwortungsvoll mit dem Tod ihrer Haustiere umzugehen. Wenn die Schildkröte hopps geht, grabt sie ein und laßt Euch ein Kätzchen schenken! In Happy Little Bluebird Valley lernen wir, daß den Tieren und der Natur eigentlich nichts besseres als der Bau eines Staudamms widerfahren kann und Doomsday for Pests schließlich klärt uns darüber auf, daß allem Ungeziefer in unserem Haus ein Ende bereitet werden könnte, wenn man sämtliche Oberflächen mit einer Farbe behandelt, die gerade mal 10% DDT enthält. Gegen Bettwanzen scheint man die besten Erfolge zu erzielen, wenn man die Bettkästen mit eben dieser Farbe einpinselt. Ein sehr jugendlicher Porky Pig zeigt uns schließlich in einem frühen Warner Bros. Cartoon die Effekte des Tabakrauchs.

Prunkstück der Kollektion ist Song Of The Nightingale (1923) von Ladislav Starewicz, dem wahrscheinlich begnadetsten Animateur aller Zeiten. Lange vor Willis O’Brian und Ray Harryhausen entdeckte er die Stop-Motion-Technik und reifte diese zu nie erreichter Perfektion aus. Wie in all seinen Filmen arbeitete Starewicz mit präparierten Tieren, deren Bewegungen er in mühevoller Kleinarbeit Bild für Bild nachempfand. Auch heute noch wird der Standard anhand seiner Animationen definiert und ohne seine detailverliebte Arbeiten hätte es Filme wie Nightmare Before Christmas oder Toy Story, bei der sogar die Handlung aus einem von Starewicz‘ Werken entlehnt ist, nie gegeben.

Mit Smoking, Drinking, Sex! schließt Nyback den dreitägigen Streifzug durch die Rand- und Dunkelzonen der Traumfabrik. Gekonnt schneidet er hin- und her zwischen historischem Werbematerial von Marlboro, Miller, Budweiser und Lucky Strike, all den Dingen, die als zeitlose, unveränderbare, gesellschaftsprägende Eckpfeiler des 20. Jahrhunderts verstanden werden und dem, was die Gesellschaft ? zumindest öffentlich ? verleugnet: Schmutz, Sex und Pornographie. Meine Begleiterinnen waren anfangs ein wenig irritiert ob dieser Mischung, aber letztendlich fanden wir den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen alten Werbeclips und historischem Hardcore. Genauso wie sich am Pornofilm seit seiner Entstehung kaum etwas geändert hat, ruft uns der Marlboro Man in den 50ern wie heute vor dem Hintergrund des Death Valley und zu den Klängen des Magnificent-Seven-Soundtracks zu: „Come to where the flavour is. Come to Marlboro Country!“

Bei dem Ausflug in die Welt der Kino-Outlaws fiel es mir leicht, diese Desperados als glorreiche Halunken im Sinne eines Billy the Kid oder Butch Cassidy zu sehen. Sie wurden uns dargestellt. Die Roadshow wird als historischer Meilenstein der Filmgeschichte verkauft, mittlerweile so harmlos, daß man nicht einmal einen Altersnachweis am Eingang für nötig hielt. Ihre Macher werden als Wegbereiter, die ihrer Zeit ein wenig voraus und somit zur Illegalität verurteilt waren, glorifiziert. Es stimmt, die Roadshow gehört der Vergangenheit an, Produzenten und Regisseure, Verbrecher oder Visionäre, sind tot, doch sollten wir nicht vergessen, daß ihre Erben weiter die dunkle Seite Hollywoods am Leben erhalten. Heute. Und heute wie damals versuchen wir mehr oder weniger erfolgreich die Augen davor zu verschließen. Vielleicht sieht ja ein ähnliches Publikum in etwa hundert Jahren mit ähnlichem Amusement einen Zusammenschnitt „klassischer“ Kinderpornos und Snuff-Movies…(Bernhard Brandner)

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