Die andere Heimat

Sieben Gedichte und ein Prolog (8)

Heimat ist, was mich nicht fand in den Kirschen,
den Alleen mit Pflaumenbäumen und Schneezäunen
im Sommer, als der Himmel eine blaue Luftmatratze war
und mich Grashalme hinter meinem Rücken bekritzelten.

Sonne, in deinem Papyrusboot
reise ich durch Schattenland.

Ist Heimat denn mehr als ein Gleichnis der Fremde,
wo ich mich verwünschte, weil alles erfüllt schien?
Gleichnisse sind das Moos der Sprache, es liegt sich
weich darauf, und wenn man die Augen schließt,

offenbart es das in ihm wohnende Vergessen: schwelgend
in vagen Wandlungen, wird die Zeit zu einem Attribut ?
im Winter Malzbier, im Sommer Kristall. Man wartet,
man lauscht, man ist ein Nirgendwo im Überall.

Sonne, in deinem Papyrusboot
reise ich zum Schattenrand.

Heimat ist ein Nadelöhr, von Lebensfäden geformt.
Hier ist kein Platz für einen Schuhkarton voll Bilder,
aber für sabbernde Kamele ohne Zahl. Und wären sie
mit Rechnungen beladen, sie fänden alle Platz.

Sonne, in deinem Papyrusboot
verlasse ich das Niemandsland.
Ich ging mit Platon durch die Stoa,
mit Abelard durch St. Denis.
Mit Bran durchkämmte ich Irlands Feenhaar,
mit Attila die Steppe.
Auf Golgatha erwachte ich und trank Salz
aus den Augen Jerusalems. Ruß schlug ich
vom Montsegur und lernte überall neue
Fragen, die mich auf Händen trugen

bis vor die Haustür, die ich nicht öffnen wollte,
denn es gab schon zu viele Dinge, die ich nicht verstand.
Nie konnte ich verstehen, wie das Gras mit dem Wind
geht, um alles Welken in der Welt nicht. Heute weiß ich
den Grund: Ich suchte die Antwort im imaginären Depot
der Erklärungen.

Sonne, dein Papyrusboot ankert
nie und sucht kein andres Land.

Dann verstand ich, es muß ein Tag im Mai gewesen sein,
denn ich sah eine Biene in eine Blüte schlüpfen und sah sie
wieder hervorkommen und wußte plötzlich, daß Biene und
Blüte Kinder sind, die keinen Stachel fürchten.

Seitdem spreche ich vom Anderen, wenn ich Heimat sage,
und das Andere sucht seither seinen Ort in mir.


Homepage von Radjo Monk

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.