Gastspiel der Kompanie Van Grimde Corps Secrets, Kanada (Beatrice Wolf)

18. und 19. Mai 2002
Schaubühne Lindenfels Leipzig

(Fotos: Schaubühne Lindenfels)


?EROSIO?
Gastspiel der Kompanie Van Grimde Corps Secrets, Kanada

Herzlichen Glückwunsch an die Schaubühne Lindenfels! Endlich sind die Tore zu einem der ungewöhnlichsten Theater der Stadt wieder geöffnet, die Zeit des Wartens ist vorbei und schon im ersten Monat des neuen Spielbetriebes stand hoher Besuch aus Kanada auf dem Programm. Im Anschluß ihrer Teilnahme an den diesjährigen Potsdamer Tanztagen reiste die Choreographin Isabelle Van Grimde mit ihrer Tanzkompanie Corps Secrets direkt nach Leipzig und war hier mit einem dreiteiligen Tanzabend zu erleben.

ESQUISSE 1: LINA
(skizze 1: Lina)

Tanz: Lina Malenfant
Musik: Thomas Gossage
Interpretation: Peter Mikka

Die Tänzerin Lina Malenfant, selbst Auftraggeberin der 1999 entstandenen Choreographie Van Grimdens, stand zu Beginn in Stille mit dem Rücken zum Publikum. Im Halbdunkel des Bühnenraums beleuchteten Scheinwerfer kurzzeitig einen außergewöhnlich femininen, dabei sehr athletischen Tänzerinnenkörper. Zu Beginn also wohltuende Ruhe zur Betrachtung eines stehenden Körpers ? Verheißung, Neugier!

Die Ruhe endete mit dem Einsetzen der bewegenden und bewegten Klavierkomposition von Thomas Gossage. Im gesamten Verlauf des achtminütigen Stückes kehrte die Tänzerin im Grunde nie mehr zur Körperordnung eines aufgerichteten Menschen zurück. Die Choreographin bearbeitete ihre Tänzerfigur wie eine Bildhauerin. Der menschliche Körper wurde hier in alle erdenkliche Posen gedreht, gedehnt, gestreckt und verzogen. Organischer Bewegungsfluß, Geschmeidigkeit oder der Umgang mit der Gravitation blieben in Folge aus. Die extreme Energie der Darstellerin erfüllte permanent deren ganzen Körper bis in die fast immer flächig gestreckten Hände.

Vorrangig periphere Bewegungen mit gestreckten Gliedmaßen und straffem Mittelkörper ließen bei mir die Frage aufkommen, ob es sich bei diesem Solo um eine reine Bewegungsstudie handelte oder hier eine wenig persönliche Interpretation tänzerischer Formen in ihren Grundelementen: Raum, Zeit, Bewegung zu Klang und Licht handelte. Weder war eine dramaturgische Entwicklungen der tänzerischen Figur richtig auszumachen, noch eine nachvollziehbare Befindlichkeit derselben. So blieb die Aufführung von Esquisse 1: Lina bis zum Schluß unterkühlt und reine Anschauung konstruierter Bewegungsformen, die ? überspitzt formuliert ? vielen anwesenden Zuschauern nur als Akrobatik und außergewöhnliche Positionierung von Körperteilen außerhalb ihrer ?normalen? Anordnung erschien.


GRAFFITI POUR UNE NUIT BLANCHE
(Graffiti für eine durchwachte Nacht)

Choreographie: Isabelle Van Grimde
Tanz: David Pressault
Musik: Sean Ferguson
Interpretation: Ensemble contemporain de Montreal
Auftragsarbeit des Ensemble contemporain de Montreal 2000

Im zweiten Stück des Abends, begegneten wir David Pressault als Interpret einer wiederum hochenergetischen Choreographie. Der junge Mann wirkte fast privat in Jeans, Trägerhemd und schwarzen Straßenschuhen, bevor sich seine Arme flügelgleich seitlich aufspannten und er mit ungeheurer Präzision und Schnelligkeit ? ?gleichsam Echo und Kontrapunkt? ? die im Stückverlauf zunehmend kraftvoller und dynamischer werdende orchestrale Musik Sean Fergusions vertanzte.

Auch David Pressault zeigte in seinen Bewegungen die eindeutige Handschrift der Choreographin. Wieder periphere Führungen, staccato-ähnliche Bewegungssequenzen, gestreckte oder winklige Arme und flache Hände. Konstruktionen im Raum. Während Pressaults Arme und ganzer Oberkörper mit großer Präsenz ?sprachfähig? waren und diesmal die tänzerische Figur bewusst das Publikum fokussierte, blieb der völlig entgegengesetzte Umgang mit Beinen und Füßen seltsam rätselhaft. Hohe Transparenz, Ausdruckskraft und Professionalität im Oberkörper standen einer auffallend verhaltenen, fast unsicher wirkenden Artikulation der unteren Gliedmaßen gegenüber. Ob hierin ein choreographisches Mittel zur Umsetzung der Idee Isabelle Van Grimmes bestand (?im Kern eine Wildheit, eine Wucht als Antwort auf einen inneren Aufschrei – ein Schrei, der durch den Körper dringt und dem Körper Ausdruck verleiht. Zwischen Widerstand und Aufgabe, Stärke und Verletzlichkeit gibt sich der Tänzer seinem inneren Zwiegespräch hin und wird selbst Tanz, Musik, Raum und Zeit….?), blieb fraglich.

Musikalisch war der Rahmen für ein so menschliches Szenario durchaus gegeben, tänzerisch war jedoch auch in diesem zweiten Stück die Lesbarkeit elementarer Befindlichkeiten weniger möglich. Verhaltener Beifall für die ersten beiden Stücke des Abends.


ÉROSIO

Konzeption und Choreographie: Isabelle van Grimde
Tanz: Annie-Claude Coutu Geoffrroy, Lina Malenfant, Zoe Poluch
Komposition: Michel Frigon
Saxophon und musikalische Leitung: Rémi Bolduc
Percussion: Julien Grégoire
Koproduktion mit Productions Art and Soul 2002

Der Komponist und Saxophonist Rémi Bolduc war der Initiator des letzten Stückes des Abends. ÉROSIO wurde als choreographisches Konzert angekündigt, in dem sich drei Tänzerinnen und zwei Musiker begegnen und im ?musikalisch- tänzerischen Wechselspiel Ausdrucksformen ganz neu entdecken?.

Im Halbdunkel des Bühnenraumes eine Tänzerin, Zoe Poluch, in sich selbst verschlungen. Hände fassten sanft den eigenen Körper, bewegten minimal Gelenke und glitten an sich, um sich und über sich selbst zu immer neuen Haltepunkten ? leiteten die ruhig geführten Bewegungen um immer neue binnenkörperliche Achsen. Herrlich, die seltsamen Schattengebilde, die der gewundene Körper der Tänzerin auf den Bühnenboden warf, und mit denen sie kurzzeitig spielte.

Zwei Musiker traten aus dem dunklen Bühnenhintergrund hervor. Neben leisen elektronischen Klängen, erfüllten Saxophon, verschiedene Klangkörper und Perkussionsinstrumente mit ihren Tönen den Raum. Mit ungeheurer Spielfreude und höchster Professionalität agierten beide Musiker im Bühnengeschehen.

Zur filigranen Zoe Poluch gesellte sich eine weitere Tänzerin. Annie-Cloude Coutu Geoffroy erschien mit sportlich-kraftvoller moderner Tanzsprache. Die Begegnung beider so unterschiedlicher Tänzerinnen blieb jedoch relativ formal. Ebenso wurden die punktuellen Schnittpunkte der Musiker- und Tänzerbewegungen im Raum kaum ausgearbeitet, wobei die einzige Initiative zur Begegnung ausschließlich von Seiten der Musiker ausging. Mit hoher Aufmerksamkeit, dabei dezent, bewegten sich beide Herren zwischen den Tänzerinnen. Hier wurde es spannend, doch leider entwickelte sich in diesen Momenten keine einzige mutige Interaktion.

Der Auftritt der dritten Darstellerin, Lina Malifant, ging mit einem kurzen Einblick in choreographisches Handwerk einher. Da wurde aus einem kurzen Bewegungsmotiv parallel zur Musik chorisch oder kanonisch getanzt, um alsbald die eindeutige Gruppenform wieder in Einzelaktionen oder kurze Couples aufzubrechen. Das Spiel endete fast so, wie es begann. Zoe Polouch kehrte zurück zur Ausgangsposition ihrer ruhigen Anfangssequenz, diesmal allerdings in unmittelbarer Nähe zum Saxophonisten. Wieder berührten ihre Hände den eigenen Körper, bewegten die Gelenke der Beine und Arme und fassten plötzlich den Körper des Anderen. Berührung – endlich.

Nach dem Abgehen der Tänzerin blieben die Musiker zurück, verstrickten sich zu einigen letzten Tonfolgen und beendeten ÉROSIO mit einer winzigen Geste der Hand. Black! Wohlwollender Beifall des Publikums.

Dieser Abend gewährte einen recht kühlen und vordergründig unemotionalen Einblick in die choreographische Welt der Isabelle van Grimde. Vielleicht ist die Begegnung mit ihrer Tanzsprache, die in den Traditionen des Modernen Tanzes der 20er Jahre ihre Wurzeln hat, in diesem Fall zu unpersönlich oder unlesbar geblieben. Das Publikum blieb reserviert und von einigen war im Anschluß an die Veranstaltung zu hören, dass die Begegnung mit den beiden Musikern das eigentlich berührende Moment des Abends war. Dennoch war diese Veranstaltung ein kleines Stück Entwicklung für unsere Stadt zu einem tanzfreundlicheren Ort. Und Freundlichkeit haben die hervorragenden, weitgereisten Akteure ebenso verdient, wie ihre Gastgeber, der neue Partner für Modernen Tanz: Schaubühne Lindenfels in Leipzig.

(Beatrice Wolf)

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