Finger auf Haut und Akkordeon

Kulturcafé mit Thomas Hettche

Mit einem literarischen Kanon werden wir zur Zeit beschossen, von unserem Oberlehrer R. R. Und außer deutschen Klassikern scheint ihm nichts als Literatur zu gelten. Kein Nabokov, Proust, kein Japaner, Kubaner oder Russe. Und auch keiner, der jünger ist als R. R. selbst.

Gegen diese Beschränkung und Rückwärtsgewandtheit wendet sich Thomas Hettche, Jahrgang 1964. Für den in Frankfurt lebenden Schriftsteller müsse es 3, 4, 5 Kanons geben. Im Kulturcafé am 26. Mai in der Leipziger Moritzbastei plädierte er dafür, Literatur wieder als das Abenteuer zu begreifen, das es eigentlich sei. Das Abenteuer der Sprache. Er wollte immer mit Worten arbeiten, sagt Hettche, dessen Debütroman Ludwig muss sterben noch während seines Studiums der Philosophie und Germanistik erschien. Die philosophische Grundlage ist bei seinen Romanen zu spüren, allerdings nicht aufdringlich, sondern als das Wasser, auf dem die Geschichte schwimmt.

Einen Körper als Zeichen zu lesen, an dem das Leben Spuren hinterlassen hat – das klingt sofort nach Semiotik, der Lehre von den Zeichen. In seinem neuen Roman Der Fall Arbogast geht es aber um einen Körper, der sinnlich beschrieben wird, um den Tod während des Liebesakts und um einen Mann, der zurecht oder unrecht im Gefängnis sitzt und sechzehn Jahre später eine Wiederaufnahme seines Verfahrens bewirkt. Eine wahre Justiz- Geschichte aus den 50er Jahren, recherchiert und nachempfunden von Hettche, der sich nicht davor scheute, sich für eine Zeit in eine Gefängniszelle einschließen zu lassen.

Der Fall Arbogast ist ein Krimi mit offenem Ausgang. Es ist der erste Krimi des früheren Suhrkamp- und jetzt Dumont-Autoren. Eine Annäherung an den Markt? So die Frage des Moderatoren Michael Hametner; die Sprache scheine weniger subjektiv und traditioneller als in seinen ersten drei Büchern. (Bei dieser Frage klingt an, es könne nicht gut sein, was vielen gefallen will. Dabei hat gerade der amerikanische Pragmatismus viele Anhänger und nicht zuletzt auch einen „heilenden“ Einfluss auf die deutsche Literatur samt Bauchnabelschau.) Thomas Hettche jedenfalls will im Konzert der Stimmen auch eine haben.

Apropos: Musik gab es auch, das Duo „Tocar“ mit Tangos von Astor Piazolla. Die Sprache von Liebe und Schmerz, passend vielleicht zu den Romanauszügen von Thomas Hettche. Mit Leidenschaft hat Schreiben für ihn zu tun, mit einer „Privatobsession“. Im Gegensatz zu den Bildmedien, die die Welt in Einzelteile zerlege, habe Literatur die Möglichkeit, als eine Art „Rundumkamera“ die Vielfalt der Bedeutungen offenzuhalten und das, was in der Moderne zerdehnt, beschleunigt und zerlegt wurde, wieder zusammenzuführen. Für diese Syntheseleistung, so Hettche, müsse man die Muskeln der Imagination trainieren.

Kein besonderes Training für die Muskulatur braucht man, um das Buch Der Fall Arbogast?zur Hand zu nehmen, erschienen bei Dumont, zum Preis von 22,80 Euro. Mir jedenfalls kribbelt es schon in den Fingerspitzen.

Kulturcafé mit Lesung von Thomas Hettche
Musik: Tango nuevo mit Duo „Tocar“
26. Mai 2002, Moritzbastei

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