Rezension 1: Morgen und Morgen. Tanztheater von Irina Pauls (Britta Paasche)

30.05.2002 Neue Szene (Schauspiel Leipzig)

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Morgen und Morgen. Tanztheater von Irina Pauls

Choreographie: Irina Pauls
Bühne und Kostüme: Katja Schröder
Percussion: Peter Klinkenberg
Dramaturgie: Guido Huller
Lichtgestaltung: Erwin Jutz

TänzerInnen:
Marcin Baczyk
Ini Dill
Unita Gay Galiluyo
Volkhart Guist
Renato Jones
Andreas Lauck
Laura Leghissa
Kiko Moreira
Jessica van Rüschen
Linda Ryser
Giacomo Sacenti


Sehnsucht nach Veränderung

Dieses Tanzstück verlässt man mit dem Bedürfnis, Eltern und Großeltern besuchen zu wollen, sie in den Arm zu nehmen, zu fragen und zuzuhören, wie es ihnen geht. ?Morgen und Morgen? packt einen da, wo es weh tut. Es schmerzen die Bilder von den Nicht-Beziehungen zwischen alten und jungen Menschen.

Nicht der Umgang mit dem Altern, die Sinnkrise ob der ersten Fältchen oder grauen Haare, sondern unser Umgehen mit alten Menschen steht im Mittelpunkt von Irina Pauls neuestem Tanztheaterstück. Die inzwischen mit ihrem Ensemble am Stadttheater Heidelberg arbeitende Choreographin gastiert im Rahmen der ?Altern und Beschleunigung? Reihe für zwei Vorstellungen in Leipzig. Für sie ist es ein Heimspiel, war sie doch bis 1998 am hiesigen, von ihr gegründeten Tanztheater des Schauspiel Leipzigs tätig.

Die Bühne in ?Morgen und Morgen? besticht durch kühle Sachlichkeit, Büropflanzen stehen ordentlich aufgereiht auf Heizungsfensterbänken oder Tischen, ein großes Podest mit fünf angedeuteten Wohnraumkabinen füllt den hinteren Bühnenteil, davor weiße Linoleumsterilität. Alles vermittelt den Eindruck von Ordnung, und dass es hier schon seinen rechten Gang gehe; aber das tut es gerade nicht. In insgesamt acht Szenen finden die Tänzer und Tänzerinnen um Irina Pauls eindrucksvolle Gesten und Bewegungen, die in Erinnerung bleiben und die der Percussionist Peter Klinkenberg musikalisch unterstützt.

Am ?Anfang?, der ersten Szene, ist das ganze Ensemble auf der Bühne, drei der Tänzer, zwei Männer und eine Frau, sitzen auf Stühlen in der Beleuchtungsgalerie oder ganz am linken Bühnenrand. Mit grau gepuderten Haaren, aschfahlen Gesichter und Bandagen befinden sie sich außerhalb des Geschehens. Eine Interaktion zwischen ihnen und den tanzenden anderen findet zunächst nicht statt. Auch jene bewegen sich isoliert voneinander, versuchen sich in Einsamkeitsumarmungen. Dann Rufe, die Alten rufen nach ?Renato?, ?Martina?, ?Andreas? – niemand reagiert. Bittend, lockend, flüsternd, ermahnend, fordernd wiederholen sie die Namen, fragen auch nach ?Ini?, ?Jessica?, ?Volkhardt? – noch immer keine Reaktion. Ihre Rufe formulieren konkreten Anspruch, sind es doch die Vornamen der Ensemblemitglieder. Als sie sich zu Schreien steigern, laufen die Angesprochenen bedrängt im Kreis herum, bevor sie gehetzt auseinander fliehen und die Bühne verlassen.

Am ?Schluss?, der letzten Szene, die gleiche Figurenkonstellation. Die Alten sitzen jetzt jedoch mitten im Geschehen, auf dem Podest, in der Mitte der Bühne, mit dem Gesicht zum Publikum. Die Jungen bringen Blumen, in einem ständigen Auf- und Abtreten holen sie immer neue Blumen, die sie auf eigentümliche Art vor die Füße der Alten legen, oder sie so halten, dass jene sie nicht ergreifen können. Das Lächeln in den Gesichtern trügt, ganz langsam und unmerklich wandelt sich die Szene. Hier ein schwarzer Rock, statt des noch eben getragenen karierten, dort ein schwarzer Pullover, statt des gestreiften Hemdes. Und plötzlich liest sich das Bild auf andere Weise. Aus dem Blumenfest erwächst eine Trauerfeier.
Am Ende bleiben die Alten allein auf der Bühne zurück.

Nein, Hoffnung vermittelt ?Morgen und Morgen? nicht; eher zeigt es die ernüchternde Realität, konfrontiert schonungslos mit Dingen, die man nicht gerne sieht. Doch kann man ja, wenn man dieses Tanzstück verlässt, Eltern und Großeltern besuchen, sie in den Arm nehmen, fragen und zuhören, wie es ihnen geht.

(Britta Paasche)

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