Aufgeblätterte Weisheit

Durs Grünbein liest Gedichte aus „Erklärte Nacht“ und stellt sich den Publikumsfragen

Unklar, ob eher der Buchtitel oder der Autorenname (Grünbein ist Büchner-Preisträger) am Dienstagabend um die hundert Zuhörer zur Lyriklesung in die Schaubühne lockte. Der Titel seines neuen Gedichtbandes Erklärte Nacht, Suhrkamp 2002, ist von anziehender Deutungsoffenheit. Ist er als Anspielung auf Schönbergs Streichsextett Verklärte Nacht zu verstehen? Wird die Nacht erklärt, erhellt durch diese Gedichte? Oder wird im Gegenteil etwas wie der Tag, die Nacht selbst, ein Leben, eine Epoche, zur Nacht erklärt und so auf dem Unterschied zwischen Realität und Sicht auf Realität beharrt? Bleibt alles im Dunkeln?

„Ich gehe davon aus, daß dieser Saal zu 80 % von Mitschreibenden gefüllt ist“, meint der 1962 in Dresden geborene Lyriker und Essayist, der noch am Vormittag ein Seminar für Studenten des Deutschen Literaturinstituts gehalten hatte. So liest er in pädagogischer Absicht („das Folgende paßt ganz gut in den Kontext von Literaturinstituten.“) neben Gedichten aus den Bänden Erklärte Nacht und Nach den Satiren auch Reflexionen aus Das erste Jahr, seinem Gedankentagebuch aus dem Jahr 2000. Der Reim und das Schreiben selbst werden thematisiert, Dichterei wird als „illegitim und verantwortungslos“ hinterfragt.

Schön einige Metaphern und Wendungen in den zu Zyklen zusammengefaßten Gedichten: „Warum willst du nicht einsehen, / wie sie nicht sind, die Dinge…“ Intelligent die räumlich und zeitlich weit gespannten, rhythmisierten und meist gereimten Exkurse philosophischer oder sozialkritischer Art. „Kleinigkeiten nach Christus…“ werden benannt, Florenz wird thematisiert, eine „Phantasie über die öffentlichen Latrinen“ heraufbeschworen. Mit der Zeit jedoch macht sich in den Langgedichten ein Zuviel bemerkbar. Die wenigen humorvollen Einsprengsel brechen das Pathos nicht auf. In ihrer aufgeblätterten Weisheit wirken die neuen „Kunstgedichte“ ausufernd und teilweise belehrend. Zugleich verweigert Grünbein das lyrische Ich. Er inszeniert ein Versteckspiel in der Historie, schlüpft in das Kostüm des antiken Philosophen, des „pessimistischen Alters“, in das unpersönliche „man“. Beim Zuhören begegnen wir immer häufiger dem abwesenden Ich, ein Ereignis, das ein Erstaunen, ein Getroffensein vom Wort nicht zuläßt.

„Wie kommt man zum Gedichteschreiben? Man könnte es mit Malen versuchen.“, so die erste Frage aus dem Publikum. Alles, was ihm bildlich beikomme, müsse er in Worte verwandeln, es gebe kein anderes Ventil, selbst einen Hund könne er nicht malen, eine Blume, erzählt der sprachgewandte Autor. Ob er sich ein Thema zum Schreiben vornehme, sich etwas zurechtlege, oder ob ihm konkrete Situationen etwas abverlangten? – Inzwischen würde er sagen, daß er am liebsten ungestört wäre von Realität, Dunkelkammerimpressionen seien gehaltvoller für ihn. Literatur sei besser, je mehr sie sich vom Realen emanzipieren könne, eine Parallelwelt erschaffe. Er glaube, künstlerische Ökonomie bedeute Isolation. Natürlich sei da immer das Problem, daß er zugleich auch leben wolle, obwohl er wisse, daß man das fernhalten müsse. Nein, er habe beides, er lebe und schreibe, und er habe plötzlich eine Liebe zu Alltagsdetails entdeckt, zu all dem „Quatsch und Krempel“, er finde „den Alltag tatsächlich als ein enormes Feld von Entdeckungen“.

Und warum neuerdings strenger gebaute Gedichte? – Die strengere Form in seinen jetzigen Gedichten, so Grünbein, sei nicht das Gesuchte, sondern das Gefundene. Kein Roman? – Einen Roman könne er erst schreiben, wenn er viel mehr wisse über Zeit. Nein, an eine Höherentwicklung in der Ästhetik glaube er nicht, es gebe nur punktuelle Gipfel. Und zum lyrischen Ich: es sei nie eins zu eins rückführbar auf den Autor, im Alltagsverstand nur scheine das noch so gegenwärtig.

11. Juni 2002, Schaubühne Lindenfels

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