Peter Tschaikowski „Eugen Onegin” (Frank Sindermann)

15. Juni 2002
HMT ?Felix Mendelssohn Bartholdy?, Großer Saal

Peter Tschaikowski: ?Eugen Onegin?, Lyrische Szenen in drei Akten op. 24

Musikalische Leitung: Christian Kluttig
Regie: Matthias Oldag

Larina: Nicole Julia Schade
Tatjana: Ausrine Stundyte
Olga: Wiebke Damboldt
Filipjewna: Ji-Sun Kim
Eugen Onegin: Michael Kunze
Lenski: Peter Diebschlag
Fürst Gremin: Christoph Hülsmann
Hauptmann: Tobias Berndt
Saretzki: Kai Wefer
Triquet: Joseph Gaines

Kammerchor der Hochschule
Orchester der Hochschule

(Fotos: hmt)


Phantome der Vergangenheit

Für ihre jüngste Opernproduktion hat sich die Leipziger Hochschule für Musik und Theater Tschaikowskis ?Eugen Onegin? ausgesucht. Dieses vom Komponisten als ?lyrische Szenen? bezeichnete musikalische Liebesdrama eignet sich für eine Hochschulproduktion in ganz besonderer Weise. Zum einen wurde das Werk von Studierenden des Moskauer Konservatoriums uraufgeführt, zum anderen lässt es sich aufgrund seines über weite Strecken kammermusikalischen Charakters auch in kleiner Orchesterbesetzung und auf einer kleinen Bühne aufführen. Der Anspruch an die Musiker, sei es auf der Bühne oder im Orchester, ist dessen ungeachtet erheblich; und der Mangel an äußerer Handlung, welcher den ?Eugen Onegin? kennzeichnet, verlangt nach einer durchdachten Inszenierung, die vorhandene dramaturgische ?Leerstellen? nicht allzu offensichtlich werden lässt.

Matthias Oldag hat mit seiner Inszenierung eine glänzende Leistung vollbracht. Und wie alle wirklich ambitionierten Regiekonzepte reizt auch Oldags in vieler Hinsicht ungewohnte Sicht auf die Personen der Oper zur Diskussion über die Angemessenheit seines Ansatzes ? im Einzelnen wie auch im Ganzen betrachtet.

Hat man der Grundanlage der Oper nach den Eindruck, als zentriere sich jeder der drei Akte jeweils um eine andere Hauptperson (1. Akt: Tatjana; 2. Akt: Lenski; 3. Akt: Onegin), so stellt Oldag von Anfang an den Titelhelden in den Mittelpunkt des Geschehens. Mehr noch: Die gesamte Handlung wird in Form eines zeitlichen Rückblicks aus Onegins Sicht geschildert. Zu Beginn und Ende der Oper, sowie zwischen den einzelnen Bildern ist die Bühne (schlicht aber zweckmäßig eingerichtet von Thomas Gruber) in kaltes Blau getaucht. Onegin wird mit seinem bisherigen Leben konfrontiert, das er nutzlos vertan hat. Ihm zur Seite steht der Franzose Triquet, eigentlich eine Randgestalt, von Oldag jedoch als Onegins Alter Ego interpretiert, das ihm die Leere seines Daseins drastisch vor Augen führt. Während des eigentlichen Handlungsverlaufs, der sich von der erfundenen Rahmenhandlung durch die Ausleuchtung mit Tageslicht abhebt, bleibt Onegin auf der Bühne und verfolgt, zumeist apathisch, das Geschehen. Die Grenzen zwischen Realität und Traum verwischen, die Vergangenheit wird für Onegin zur quälenden Gegenwart.

Ein interessantes Element der Oper verschenkt dieses originelle Konzept jedoch: In vielen Szenen wird von anderen Personen Onegins Ankunft erwartet, hat dieser also einen mit Spannung oder gar Ungeduld erwarteten Auftritt (so zum Beispiel wenn die Gesellschaft auf dem Landgut Lenskis und Onegins Ankunft erwartet, wenn es Tatjana drängt, Onegins Antwort auf ihren Brief zu erfahren oder wenn Lenski den ehemaligen Freund zum Duell erwartet). Da Oldag aber nun Onegin permanent auf der Bühne bleiben lässt, ist dieser, statt aufzutreten, immer schon da. Doch das kann man leicht verschmerzen, wenn man sieht, wie Onegin sich auf der Bühne lustlos die Krawatte bindet, um dann quasi unbeteiligt ins Geschehen zu treten. Eben durch dieses Verhalten, sich passiv durchs Leben treiben zu lassen, verspielt Onegin ja sein Glück. Apropos verspielt: Die Idee, beleuchtbare Spielkarten auf der Bühne anzubringen, überzeugte nicht. Zum einen ist die zugrunde liegende Metapher etwas abgegriffen, zum anderen wird sie recht vorhersehbar angewandt. Wenn Onegin seinen Freund Lenski erschießt, leuchtet ?Schwarz?, wenn er am Ende verzweifelt vor den Trümmern seines Lebens steht, fehlt ?Herz?. Im übrigen wecken die Karten eher Assoziationen an Tschaikowskis Oper ?Pique Dame?, die aber hier unpassend sind.

Und noch etwas ist schade: Der Aufwertung des Franzosen Triquet fällt die stumme Rolle von Guillot, Onegins Diener, zum Opfer, die von Triquet mit übernommen wird. Dabei ist kaum etwas bezeichnender für Onegins Charakter als die Tatsache, dass er als Sekundanten für das Duell seinen Diener, eine recht traurige Gestalt, mitbringt, sich noch dazu verspätet und damit die ganze ehrenvolle Veranstaltung ins Lächerliche zieht. Doch wie schon erwähnt: Diese Einwände sind allein der Vielschichtigkeit der Inszenierung zu verdanken und daher überhaupt kein grundsätzliches Problem.

Zwei weitere gravierende Eingriffe sind noch zu erwähnen, von denen der erste als einer der besten Einfälle der Inszenierung, der zweite als weniger gelungen erscheint. Der erste Eingriff betrifft die Rolle des Chors, der hier als Instanz moralischer Anklage auftritt. Oldag verleiht den folkloristischen Gesängen der Landleute und der Mädchen (in russischer Sprache, wie bei Konwitschny an der Oper Leipzig), aber auch der Ballgesellschaft eine geradezu abgründige Dimension. Wenn die Landleute von roten Backen singen, sich dabei wie zur Zwangsbelustigung knallrote Punkte auf selbige kleben und solcherart ?verkleidet? auf Onegin eindringen; wenn die jungen Mädchen am Ende des ersten Akts den eher scherzhaften Gesang über ihren Ärger mit den Männern anstimmen, dabei aber Onegin im Sinn haben; wenn schließlich die Ballgäste mit Leichenmiene und Grabesstimme das fröhliche Fest besingen ? dann wird deutlich, was hinter diesen scheinbar naiven Texten steht oder zumindest stehen kann. Der zweite angesprochene Eingriff ist weniger auffällig. Ich meine den Charakter der Olga. Üblicherweise wird sie als naives, lebenslustiges, zwar oberflächliches aber herzensgutes Mädchen dargestellt. Oldag stellt eine gefühlskalte, leblose Puppe auf die Bühne, welche auch auf dem Ball, nachdem Lenski sie der Herzlosigkeit angeklagt hat, weder in Tränen ausbricht, noch sonst eine Miene verzieht. Man muss sich aber fragen, wie Lenski, der sensible, reizbare Dichter, sich je in solch einen Eisblock hat verlieben können.

Was die musikalische Seite angeht, so soll gar nicht erst versucht werden, den Vergleich mit einem großen oder auch kleinen Opernhaus anzustellen, da ein solcher unangemessen, wenn nicht ungerecht und auch wenig hilfreich ist, wenn man den Leistungen von Musikern in der Ausbildung gerecht werden will. Die Sängerinnen und Sänger gaben ausnahmslos ihr Bestes, und was sie stimmlich wie darstellerisch zu bieten hatten, nötigt großen Respekt ab. Michael Kunze gab einen hervorragenden Onegin: Mühelos bediente er sich der jeweils erforderlichen vokalen Schattierungen, traf Onegins Hochmut und Arroganz ebenso gut wie seine spätere Verzweiflung. Kleinere Abstriche sind vor allem bei den schnellen Passagen zu machen, die Kunze stellenweise etwas in Bedrängnis brachten. Außerdem schien gegen Ende etwas die Kondition nachzulassen, ein Effekt, der sich durch längere Bühnenerfahrung wohl verlieren wird. Hervorzuheben ist an Kunzes Leistung auch das schauspielerische Talent, welches durch die in Oldags Inszenierung so große Bühnenpräsenz stark gefordert wurde. Ausrine Stundytes Tatjana tat sich durch eine große emotionale Tiefe hervor. Dass die berühmte Briefszene die Sängerin an die Grenzen der Belastbarkeit brachte, überrascht nicht, gehört diese Szene doch zu den ganz großen Herausforderungen der Opernliteratur. Bewundernswert ist die physische Kraft der Stimme, mit deren Hilfe Stundyte in dieser Szene eine starke Intensität der Darstellung erreichte, welche bis zum Finale der Oper erhalten blieb. Auch der Wandel vom jungen, unerfahrenen Mädchen voller romantischer Träume zur würdevollen Gattin eines Fürsten kam plastisch zum Ausdruck. Peter Diebschlag scheint die ideale Besetzung für die Rolle des Lenski zu sein: gefühlvoller, verletzlicher, ja zerbrechlicher kann man sich den Dichter kaum vorstellen und wünschen. Diebschlag verfügt über eine modulationsfähige, intonationssichere Stimme, und er nutzte sie, um aus Lenskis ergreifender Abschiedsarie einen Höhepunkt des Abends zu machen.

Die Nebenrollen fielen dahinter kaum zurück. Als besonders beeindruckend muss Ji-Sun Kim in der Rolle der Filipjewna, Tatjanas Kinderfrau, erwähnt werden, die ihr beträchtliches stimmliches Material in einer perfekten Synthese aus überlegener Kontrolle und gestalterischer Freiheit einzusetzen wusste. Christoph Hülsmann verkörperte den Fürsten Gremin so angemessen, wie es einem jungen Mann nur möglich ist und erntete für seine Darbietung des einzigen ?Schlagers? der Oper (?Du kennst der Liebe Macht auf Erden?) berechtigten Szenenapplaus. Wiebke Damboldts Olga konnte schauspielerisch wohl überzeugen, schien aber musikalisch noch nicht ganz ausgereift. Vor allem Probleme im Zusammenwirken mit dem Orchester machten sich zum Teil bemerkbar; doch die Zukunft wird diese leichten Unsicherheiten wohl bald der Vergangenheit angehören lassen. Nicole Julia Schade als Larina, Tobias Berndt als Hauptmann und Kai Wefer als Sekundant Saretzki machten ihre Sache ebenfalls gut und trugen damit nicht unwesentlich zum Gelingen des Abends bei. Joseph Gaines wurde den für die Rolle des Triquet ungewöhnlich hohen darstellerischen Anforderungen (siehe oben) vollauf gerecht. Das Ständchen zu Tatjanas Namenstag im zweiten Akt, das Oldag ihn in einer deutschen Überstzung singen ließ (warum eigentlich?), trug Gaines angemessen ? das heißt in diesem Fall: gekünstelt und in snobistisch-herablassendem Ton ? vor. Ein besonderes Lob verdienen die Sängerinnen und Sänger für die Meisterung der mehrstimmigen Nummern, so zum Beispiel der beiden Quartette im ersten oder des schwierigen Quintetts im zweiten Akt.

Das Orchester schlug sich wacker und hat dafür alles Lob verdient, auch wenn man unter musikalischer Perfektion sicherlich etwas anderes versteht. Doch die kann man von einem Hochschulorchester schlicht noch nicht erwarten. Wichtiger ist, dass der musikalische Zusammenhang meistens erhalten blieb und dass nach der einen oder anderen Turbulenz alle im entscheidenden Moment wieder zusammen fanden. Dass dieses so war, ist nicht zuletzt dem Dirigenten Christian Kluttig zu danken, der die Fäden stets in der Hand behielt und klanglich das beste aus dem klein besetzten Orchester zauberte. Ohne ein beträchtliches Koordinationstalent ist eine Aufführung mit (noch) opernunerfahrenen Musikern vermutlich kaum zu bewältigen. Ob die musikalischen Lesarten, die Kluttig aus dem Autographen übernommen hat, entscheidend Neues bieten, ist übrigens fraglich.

Es ist zu bedauern, dass der große Aufwand und das hervorragende Ergebnis der Bemühungen nicht mit mehr Aufführungsterminen honoriert werden. So ist diese wirklich gelungene Produktion leider heute schon wieder Geschichte. Doch wie es die Oper selbst schon sagt: vorbei ist vorbei. Und wir können nur, frei nach Lenski, fragen: ?Wohin, wohin bist du entschwunden?? Doch während Lenski glaubt, nur eine Person werde sich später noch an ihn erinnern, steht solches für dieses Opernereignis nicht zu befürchten.

(Frank Sindermann)

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