Mit Josef in kuscheliger Nähe

Marcel Beyer entblätterte Zeit-Schichten in der Reihe „L hoch 3“

„Was ich nicht sehen kann, muss ich erfinden“, schreibt Marcel Beyer in einem seiner inzwischen drei Romane. Was er mit allen sinnlichen Mitteln sichtbar, also gegenwärtig macht, ist die Geschichte der Generation seiner Großeltern. Dabei möchte sich der 1965 in Württemberg geborene Autor nicht auf die eine oder andere Art der Geschichtsdarstellung verlassen, sondern sich, genau wie den Leser, als „Dritten im Bunde“ verstehen.

Da seine Lyrik eine starke Suggestivkraft aus dem Klang bezieht, liegt in der Prosa der Versuch der Verführung nahe: den Leser/Hörer folgsam zu machen auf einer Switch-Tour durch die Schichten der Zeit. Marcel Beyer lässt Figuren, die einem weit und am weitesten entfernt scheinen, nah kommen, so z.B. die Tochter von Goebbels im mehrfach ausgezeichneten Roman Flughunde. Mit einer starken Einfühlungsgabe versehen, geht der Autor mit seinem Thema auf dem Grat zwischen Nähe und Abstoßung.

Ein Ort, an dem Marcel Beyer durch das „Abgerissene“ (im Sinne eines vielfach überklebten Gebildes) auf die Geschichten blicken kann, war für ihn eine Zeit lang die Stadt Wien. Dort stieß er auf einen der Josefs, die Beyers Texte durchziehen, den österreichischen Lyriker Josef Weinheber, der mit seinen Gedichten den Nazis „kuschelig“ nah stand, wie es Beyer nennt. Durch die Auseinandersetzung entstanden erste Texte, die mit Geschichte fiktional umgehen. Fiktionalisierung bedeutet für Beyer aber nicht das Auslassen nach Gutdünken, sondern genaue Recherche, wozu er sich beliest und an die Orte des Geschehens fährt.

In seinem 2000 erschienenem Roman Spione, aus dessen letztem Teil Marcel Beyer in der Schaubühne las, behandelt er wiederum ein historisches Thema, verbunden mit der modernen Problematik der Sinneswahrnehmung und -täuschung. So wie es in Flughunde um das Hören und Abhören geht, wird in Spione die visuelle Wahrnehmung aufgegriffen und die Idee der „Geisterfotos“ wiederbelebt.

Die zweite Frau des Großvaters, einfach die Alte genannt, spielt für die Familiengeschichte eine große Rolle. Zu Lebzeiten niemals in ihrer eigentlichen Person wahrgenommen, und von den vier Enkeln zum „Tod durch Worte“ verwünscht, soll die Alte vor dem geistigen Auge des Lesers anhand von „Doppelbelichtungen“ auferstehen und in ihrer eigenen Geschichte fassbar gemacht werden. Diese Idee erscheint mystisch aufgebauscht und erinnert in Zügen an TKKG für Erwachsene: Die Alte steht am Fenster, sieht draußen den Totenbaum, verschwimmt mit der Figur des Erzählers, der hinter sich einen Atem spürt, obwohl mit dem „Auftauchen Lebender nicht zu rechnen ist, plötzlich ist er wieder Kind, sackt die Zeit unter der Füßen weg“.

„Worüber man nicht schweigen kann, muss man sprechen“, heißt ein programmatischer Satz bei Marcel Beyer. Und man hört ihm gern zu. Einerseits. Und ist andererseits doch nicht frei von einem zarten Unbehagen.

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