Christoph Hein schöpfte einst den Slogan der Heldenstadt – nun ist er Lesegast in eben dieser
Als einer der bedeutendsten Autoren der DDR, als politisch Engagierter, vor allem als Kritiker des Stalinismus, als Erfinder des Slogans ‚Heldenstadt Leipzig‘ – so wird uns der hagere Mann mit graumelierten Haaren und markanten Gesichtszügen in der Eröffnungsrede von Josef Haslinger vorgestellt. Der Gast, der an diesem Abend im Literaturinstitut lesen wird, blickt dabei schüchtern zu Boden, gelegentlich hebt er nachdenklich seinen Blick, manchmal nickt er unterstützend. Es scheint ihm unangenehm, dass über ihn gesprochen wird. Doch sobald er auf seinem Stuhl Platz nimmt, die ersten Seiten aufschlägt, gewinnt er an Sicherheit. Plötzlich scheint er lebendig, teilweise überschlägt sich dabei seine Stimme, er liest sehr schnell, fast zu schnell.
Christoph Hein hat vor allem ältere Schriften ausgesucht, die er dem gespannten Auditorium vortragen möchte, Texte, die vor 1989 entstanden sind. Dabei überrascht die Auswahl ein wenig, denn sowohl jüngere Arbeiten, wie der vielgelobte Roman Willenbrock, als auch die Mitte bzw. Ende der achtziger Jahre erschienenen Texte Horns Ende und Der Tangospieler bleiben an diesem Abend ungelesen. Vielmehr präsentiert er den Zuhörern neben einem Auszug aus der berühmten Novelle Der fremde Freund (die eine sehr interessante Entstehungsgeschichte hat) vor allem unbekanntere Erzählungen. Dabei wird beim Zuhören eines schnell deutlich: Hein ist nie ein Schwätzer; seine Texte sind meist nüchtern und direkt, geprägt durch einen Pessimismus, der einen als Leser, oder in diesem Falle als Hörer, erschrickt. Egal ob er von einem gescheiterten Fluchtvorhaben in Nachtfahrt und früher Morgen berichtet oder in der schon angesprochenen Novelle ein Lebensjahr einer Ärztin nachzeichnet, die immer wieder über die Stupidität des Alltags und über gefühlsbedingte Unzulänglichkeiten reflektiert, bei Hein stehen die Figuren und mit ihnen auch der Leser immer kurz vor dem Abgrund.
Es verwundert daher wenig, dass Hans Mayer in seiner Rede zum Erich-Fried-Preis 1990 Christoph Heins literarisches Thema als „moribunde Welt“ charakterisiert hat, eine Welt, die untergeht und die für die Nachwelt aufbewahrt wird. Aus diesem Grund wurde und wird Hein häufig als ‚Chronist‘ bezeichnet und damit in eine lange Tradition der deutschen Literatur gestellt. Er selbst sagte in einem Gespräch über sein Schaffen: „[…] meine Texte sollen Chronik sein meiner Zeit und meiner Gesellschaft. Das erfordert gleichermaßen Distanz und Nähe.“
Diese beiden Eigenschaften prägen die Texte von Hein sehr stark. Nähe, da „der Autor zu allererst für sich selber schreibt“, um beim Schreiben und über das Schreiben das Leben und sich selbst zu begreifen. Distanz wird bei ihm vor allem durch die charakteristische Ironie seiner Prosa deutlich. Das führt Hein den Zuhörern beispielsweisend an seiner Erzählung Herr Federleicht vor, die Geschichte über einen älteren Herrn, der sich 949jährig als Noah ausgibt und in einem fort über Gott und dessen sinnlose Sintflut schimpft.
Eine andere Art von Distanz hat Hein nach dem und durch den „Untergang des ‚Imperiums‘ DDR“ gewonnen. Sah er sich früher, wie teilweise auch andere Autoren, dazu berufen, durch Literatur eine fehlende Öffentlichkeit zu ersetzen und damit ein Gegengewicht zur Macht darzustellen, fühlt er sich durch den Wegfall dieser politischen Funktion heute ?zwar bedeutungsloser, aber auch leichter.“ Dabei, das hat er immer wieder betont, steht die Arbeit, das Schreiben, früher wie heute im Zentrum seines Lebens. Das Begreifen, das Fassbarmachen dieses Untergangs, der noch lange, bis über Generationen hinweg, nachwirken werde, sei seine selbstgestellte Aufgabe – die Aufgabe eines Chronisten. Dieser wird an diesem Abend vom Leipziger Publikum herzlich beklatscht. Es zeigt sich, dass dieser Autor (noch) Dinge zu erzählen, zu berichten hat, die die Menschen lesen und hören möchten.
Christoph Hein, der im Augenblick am Deutschen Literaturinstitut, wie er sagt, „das Handwerk des Schreiben“ lehrt, hat sein Handwerk schon frühzeitig meisterhaft beherrscht. Auf die Frage, warum aber in seinen Texten fast alle Figuren am Ende scheitern, hat er einmal erwidert: „Ich würde es schöner finden, wenn Sie von Sehnsucht sprächen. Das ist vielleicht nur ein anderes Wort dafür, aber es ist ein produktiveres Wort. Es ist mir wichtig, dass die Figuren nicht scheitern, sondern versuchen, in eine visionäre Gegenwelt zu kommen, in das Bild einer Welt, die ihnen entspricht.“
Lesung mit Christoph Hein
02. Juli 2002, Deutsches Literaturinstitut Leipzig
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