Die Wiederentdeckung Bachs

Der Chor und das Orchester des Collegium Vocale Gent unter Philippe Herreweghe geben Bach im Gewandhaus

Ein wahres Fest beschert uns der MDR Musiksommer an diesem Freitag durch das Gastspiel von Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent mit seinem unvergleichlichen Dirigenten Philippe Herreweghe. Schon vor der Pause will der Applaus nicht verebben und am Ende klatschen sich anderthalb tausend sichtlich bewegte Zuhörer die Hände wund. Nach endlosen (es mögen Stunden gewesen sein) Bravos und stehenden Ovationen lassen sich die sichtlich gerührten Interpreten schließlich noch zu einer Zugabe bewegen und wiederholen den Schlusschor von Bachs Magnificat.

Gerade für die Bachstadt Leipzig sind solche Gastspiele sehr wichtig. Schließlich gingen von Herreweghe in jüngster Zeit die vielleicht bedeutendsten Impulse für eine neue Sicht auf die Musik des größten Thomaskantors aus. Dabei ist die von Herreweghes Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent so meisterhaft beherrschte „Historische Aufführungspraxis“ nicht das entscheidende Kriterium. Es geht letztendlich nicht um Authentizität der Interpretation, es geht nicht darum, die Klangwelt des 18. Jahrhunderts herauf zu beschwören (warum sollten wir uns für sie interessieren?); nein, es geht darum, eine bestimmte Musizierhaltung für unsere gegenwärtige Welt wiederzuentdecken und für die moderne interpretatorische Vielfalt fruchtbar zu machen.

Was zunächst auffällt, ist der gleichmäßige und leichte Fluss der Melodien bei gleichzeitig sehr präziser und plastischer rhythmischer Artikulation. Bachs Musik wird auf ihren „natürlichen“ Klang reduziert, d. h. vor allem das Melodische wird befreit von drückender Expressivität, von übertriebener Prononciertheit und von allen agogischen Schwankungen. Was bleibt, ist schlanke, unverstellte Liedhaftigkeit, die Gesänge bekommen eine feine Biegsamkeit, eine Differenziertheit und einen Nuancenreichtum, der es erlaubt, sich mit dem dynamischen und rhythmischen Spiel völlig an die inhaltlichen und sprachlichen Feinheiten des Textes anzuschmiegen. Dieses Natürliche, Volksliedhafte, Unangestrengte verbindet sich jedoch dann mit der Virtuosität des instrumentalen Spiels und des Gesangs und mit der kunstvollen Mehrstimmigkeit, die aus dem musikalischen Ganzen ein hochartifizielles Kunstwerk macht. Aber während Bachs Polyphonie oft genug wie ein gotisches, machtvolles und starres Bauwerk behandelt wird, erscheint sie bei Herreweghe wie eine Brunnenstube, aus der heraus die musikalischen Bäche wie munteres Quellwasser hervorsprudeln, herumwirbeln, um am Ende in einen gemeinsamen Fluss zu münden.

Im relativ kleinen Chor und Orchester sitzen aber auch Solisten, die das Gesamtkonzept mittragen und meisterhaft realisieren können. Das ist durchweg zu spüren, vor allem aber bei den Instrumentalsoli und der zweiten Sopranstimme, die im Magnificat von einer Chorssängerin übernommen wird. Weichheit und Transparenz der Stimmen trifft auch für die eigentlichen Solisten des Abends zu. Sie passen sich der scheinbar so leichten Natürlichkeit auf vollendete Weise an. Bei Tenor und Sopran kommt diesmal noch eine Intensität des Ausdrucks hinzu, die bis ins innerste Mark dringt. So sitzen am Ende die bachverliebten Leipziger mit offenem Mund im Gewandhaus und können nur staunen: So schön kann Bach sein, so schön kann Musik sein.

Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent

Solisten:
Carolyn Sampson, Sopran
Ingeborg Danz, Alt
Christoph Prégardien, Tenor
Peter Kooij, Bass
Cécile Kempenaers, Sopran II (Magnificat)

Dirigent: Philippe Herreweghe

Johann Sebastian Bach:
„Meine Seele erhebt den Herren“ BWV 10
„Herz und Mund und Tat und Leben“ BWV 147
Magnificat BWV 243

26.07.2002, Gewandhaus, Großer Saal

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