Abschied von sich selbst

Hans-Ulrich Treichel knüpft mit seinem neuen Roman in vielerlei Hinsicht an sein bisheriges Werk an

In gewohnter Manier wird Komik durch Genauigkeit, Wiederholungen, Ironie und einen Blick für pikant-pittoreske Situationen erzeugt. Auch die Thematik des Buches kündigt sich bereits in früheren Gedichten und Prosaarbeiten an. In den Frankfurter Poetikvorlesungen (Suhrkamp, 2000), in denen er unter anderem seine Anschauungen zu einer „Geographie der Sehnsucht“ darlegt, schreibt Treichel über seine eigene erwachende Sexualität: „Das Erwachen war in Wahrheit gar kein Erwachen, sondern eine Art Libidoschlag ins Gesicht des gänzlich unvorbereiteten Knaben. Oder, um es nicht ganz so gewaltsam zu formulieren: das Aufschrecken durch den Daueralarm eines nicht mehr abzustellenden Weckers. Daueralarm in Ostwestfalen.“ Fast möchte man sagen, das Erscheinen des „Irdischen Amors“ war gleichsam zu erwarten.

Es geht darin um einen dauererregten Mann, der sein Glück in Berlin, Italien, Frauenarmen oder allem zusammen sucht. Unentschiedene und damit offene Sexualität, behaarte und weniger behaarte Frauenkörper, Homosexualität, Voyeurismus, beiläufig etwas Kunsttheorie usw. werden unterhaltsam ausgestellt, und bei all dem scheint es um etwas anderes zu gehen, um das Gegenteil von Apotheose nämlich, um Entgöttlichung. Liebe soll ironisiert und entgöttlicht werden, Gott und Mensch sollen entgöttlicht werden, Wissenschaft und Kunst gleich mit. Rundumschlag, Illusions- und Sehnsuchtsabbau, gewollte Entzauberung. Vorsatz: Aufräumen. Wobei die Wissenschafts- und Kunstsatire anders als im vorangegangenen Roman Tristanakkord nur Nebenthema ist.

Ein Stück Programmatik steckt so schon im Titel. Amor wird auf die Erde geholt, benimmt sich in Liebesdingen sympathisch närrisch, stolpert und trottelt umher und heißt Albert. Lassen wir uns auf die Metapher ein, dann wissen wir: Der göttliche Amor der griechischen Mythologie besitzt zwei Pfeile in seinem Köcher. Der eine entflammt die Liebe, der andere verscheucht sie. Der sie entflammt, ist golden und hat eine scharfe Spitze. Der sie verscheucht, ist stumpf und hat Blei am Ende des Rohres. Mit seinen schnellen Pfeilen trifft Amor den Apoll wie den Pluto, in hinfälliger Hoffnung läßt er die Schwester den Bruder lieben, ritzt Mutter Venus die Brust. Nicht selten ist er ein Unglücksrabe, und es ist nicht überliefert, daß er sich je selbst getroffen hätte.

Was nun den irdischen Amor Albert anbelangt – er ist Student der Kunstgeschichte, beschäftigt sich mit Caravaggios Bild Der siegreiche Amor, und auch seine Pfeile treffen. Im Gegensatz zu seinem himmlischen Namensvetter weiß er allerdings nicht, welchen Pfeil er gerade versendet hat. Verscheucht er die Liebe, entflammt er sie? Wahllos ballert er durch die Gegend, die Unwissenheit gegenüber Frauen wird kultiviert. Eine Tatsache, die für Überraschungen sorgt und den Roman belebt. Urkomische bis peinliche Situationen ergeben sich, ein Mitlächeln bei Alberts Eskapaden ist vorprogrammiert.

Erzählt wird, was die verschossenen Pfeile bei ihrem Absender Amor anrichten. Ein Ziehen in den Muskeln vom Sehnenspannen. Pfeile sind keine Bumerangs. Nun war Glaubwürdigkeit, die durch Authentizität oder eine mit authentischem Material angereicherte Fiktion erreicht wird, stets eine Stärke Treichels. Schreibt er in seinem Gedicht Politik der Lebensstile: „…Ich empfehle: / Unverstellte Offenheit. / Absolute Authentizität. / Darauf fällt jeder herein.“, gilt das auch für seine Literatur. Sie ist weitgehend autobiographisch. Gibt es Leerstellen in der Biographie, kann es für ihn eine Schreibintention sein, diese erfinderisch aufzufüllen. Ein Verfahren, das er „Die Erfindung des Autobiographischen“ nennt und das er schon mehrfach wirksam angewendet hat, beispielsweise im Verlorenen, seinem bisher größten Erfolg.

Auch im Irdischen Amor begegnen wir einer Vielzahl von früher benutzten Motiven. Etwa schreibt sich der Autor bereits in seinem wunderbaren Gedichtband Seit Tagen kein Wunder Flügel aus Blei zu, was im Nachhinein wirkt, als habe er schon vor Jahren seine Anwartschaft auf einen irdischen Amor betont. Die geübte Schwimmerin aus dem Roman Tristanakkord wird wiederbelebt, es gibt Mozzarella zu essen, Treichels Rom- und Berlinerfahrung, Italiensehnsucht, kleinstädtische Kindheit und vieles andere mehr spielen eine Rolle, Indizien, die auf eine Weiterführung seines erfinderisch autobiographischen Schreibprogramms hinweisen. Und doch wird es diesmal eine Wiederbegegnung anderer Art. Der Mut zur Erfindung ist weiter gewachsen. In die leichtgängige, auf den Plot setzende Prosa sind bisweilen noch Authentizitätsbrocken eingewebt, doch wirkt sie nicht mehr wie der Versuch, ein Autor-Ich oder ein Ich, aus dem man hervorgegangen ist, zu entwerfen. Oft ist der Blick des Autors auf die literarisch fruchtbare Dauererregung seines Helden distanziert. Es wird Fehlbarkeit zur Schau gestellt, aber wessen. Der Autor erhebt sich über das Geschehen, findet oder erfindet sich nicht wieder, nur ein, freilich amüsantes, sexuelles Panoptikum.

Wenige Stellen bringen eine andere Ebene in das Buch. Da wird auch ernst genommen. So als Albert das Bedürfnis spürt zu beichten und feststellt, daß ihm die Sünden dazu fehlen. Er erinnert sich an den Pelzmantel, der seine ersten Liebesabenteuer einhüllte. „Wo war er überhaupt? Hatte er ihn irgendwann fortgeworfen? Vielleicht war das seine Sünde. Daß er Dinge fortwarf, die ihm am Herzen lagen. Aber das konnte er keinem beichten.“ Vieles dagegen mutet wie Persiflage an, was entgegen der mutigen Absicht des Buches nicht mutig ist und Unmut beim Lesen produziert. Während der Mozzarella in Treichels Gedicht Mit der ich Mozzarella aß etwas Magisches hatte und eine Substanz war, die einen ganzen melancholisch-wehmütigen Zustand erzeugte, wirkt der Mozzarella hier nur noch rund, banal und ja, italienisch weichkäsig. Während die geübte Schwimmerin aus dem Tristanakkord noch Sehnsucht in sich trug, reduziert sich der gemessen begierliche Blick im Irdischen Amor auf Außenhaut und Fleischgerüst. Schluß mit Klischee und Pathoszeitalter. Die Vergangenheit brennt nicht, prosaisch wird ein Pflaster auf womöglich vorhandene Wunden gepappt. Der Text heißt: Abschied von sich selbst.

Vielleicht stimmt es, daß das Absichtsvolle mißlingt. In diesem Falle auch das beabsichtigt Unabsichtliche. Man spürt zuweilen die „Schreibmasche“ und den Willen, durch Lakonie zu überraschen. Überraschend ist dabei, daß bisher wirksame Stilmittel in diesem Text nur bedingt wirken. Der abgründige Unterton fehlt. Vielleicht muß es, wenn es nach Schema geht, an Tiefe fehlen, und vielleicht baut sich sogar eine Kette von Widerspruchsfreiheit – Reibungslosigkeit – Langeweile auf.

Langeweile nur bedingt, die Kritik ist zugegebenermaßen überspitzt. Vor Langweiligkeit rettet den Text der Humor des Autors. Außerdem ist die Sprache bewunderungswürdig leicht und schlackelos, wirkt dahingegossen. Treichel ist ein Meister der sprachlichen Selbstbeschränkung. Nur bleibt im Irdischen Amor eben vieles Karikatur, und so ist der Roman auf der einen Seite souverän, auf der anderen seltsam mißglückt. Man fühlt sich nicht nichtveralbert durch den Amorhanswurst Albert. Es ist das vergnügliche, etwas flach geratene Buch eines guten Autors. – Und eigentlich, nur am Rande, quasi als Fazit: Amor bleibt göttlich.

Hans-Ulrich Treichel: Der irdische Amor
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2002
256 S., 19,90 €

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