Casablanca – oder: Wer wem in die Augen schaute

Wieder und immer wieder: der Filmklassiker von Michael Curtiz

Man nehme alle Gerüchte und Legenden, die sich um Michael Curtiz‘ Casablanca ranken und knüpfe sie fein säuberlich aneinander. Das Ergebnis muß einen Vergleich mit allem seit Beginn der Schiffahrt gesponnenem Seemannsgarn durchaus nicht scheuen.

Der Plot von Curtiz‘ 126. Film ist – nehme ich an – jedem hinreichend bekannt.
Nein?
Na gut, aber nur ganz kurz:

Casablanca, Marokko. Ein Freihafen an den Grenzen dessen, was Nazi-Europa zu werden droht. Die Exekutive, verkörpert durch die Figur des Präfekten Renault regelt das öffentliche (und das nicht-so-öffentliche) Leben mit menschlicher Hand, wobei man sich bei der Hand des Präfekten durchaus vorstellen kann, daß sie sich auch das eine oder andere Mal gerne für Zuwendungen öffnet, sobald eine unkomplizierte Regelung gefragt ist. Nun ja, Franzosen eben… Casablanca zeigt sich uns als stilisierte Büchse der Pandora, die ihr letztes Geschenk denen offenbart, die den weiten Weg dorthin gemacht haben: Die Hoffnung, auf dunklen Kanälen über Lissabon in die rettenden Arme der USA auswandern zu können. Falsche Papiere erhält jeder, der fähig ist, den Preis zu zahlen. Ugate (ein sensationell schmieriger Peter Lorre) liefert, Renault (Claude Rains) schaut weg (während seine Hand…). Ein perfektes Szenario, wenn da nicht… DIE DEUTSCHEN wären (tja, früher war’s Marokko, heute Mallorca).

Major Strasser (Conrad Veidt) hält sich in Casablanca auf, um die Flucht eines flüchtigen Widerständlers, Victor Laszlo (Paul Henreid) zu verhindern, was auch gelingen würde, wenn nicht der Amerikaner Rick Blaine (Humphrey Bogart), Abenteurer, Säufer und Nachtclubbesitzer, plötzlich und unerwartet die Regeln des Spiels geringfügig verändern würde. Interessanter Weise handelt er nicht aus liberalen, politischen Motiven (das scheint ihn alles nicht zu interessieren), sondern weil er mit Victor Laszlo’s Verlobter Ilsa, schmerzliche Erinnerungen teilt – aber letztendlich sind es doch immer die Frauen! Oder wäre je ein Grieche nach Troja, was nicht unbedingt vor der Haustüre lag, aufgebrochen, wenn da nicht diese Helena… aber ich wollte mich kurz halten.

Jedenfalls kann Rick Laszlos Flucht organisieren und verzichtet sogar ritterlich auf eine gemeinsame Zukunft mit Ilsa.
Kurz genug?Casablanca ist ein einzigartiges Flickwerk aus Stereotypen. Sie tragen zwar Namen, bleiben jedoch Metaphern.

Rick – DER Einzelgänger
Ilsa – DIE damsel in distress
Laszlo – DER impotente Visionär
Strasser – DER Nazi
Ugate – DER Kleinganove

usw.

Reduziert auf diese Sichtweise funktioniert Casablanca in ähnlich überkontrastierter Schwarz-Weißzeichnung (auch in übertragenem Sinne) wie 25 Jahre später der Italowestern, ohne jedoch die Typisierung zum Stilmittel zu machen. Curtiz erkannte lediglich, daß kleine Geschichten in großem Rahmen am besten ohne unnötigen Ballast auskommen. Zu viele Details ersticken das Ganze. Ein Grundsatz, der für alle Melodramen gilt und Casablanca war, ist und bleibt ein Lehrstück des Genres: Rahmen und individuelle Geschichte – hier als Rahmen die Bedrohung der Welt durch das Naziregime, als individuelle Geschichte die tragische Liebe Rick’s zu Ilsa – stehen gleichberechtigt nebeneinander und gehen im Finale sogar ineinander über, als Rick erkennt, daß der große Rahmen (die Rettung der Welt) wichtiger ist als sein kleines, sehr fragwürdiges Glück. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, daß sich hier der Archetyp des Amerikaners sozialistischen Maximen unterwirft.

Filmhistorisch gesehen ist Casablanca ein Phänomen, wenn man die unzähligen Rezensionen und Interpretationsversuche genau betrachtet. Legionen von Cineasten stürzen sich auch heute noch mit der Akribie von Pathologen auf den Film, setzen immer und immer wieder ihre Skalpelle an denselben Stellen an, bis nur noch ein Haufen zuckender Einzelteile übrigbleibt. Aus diesen sucht man sich die vermeintlich richtigen heraus und betrachtet sie so lange bis man das Ganze, aus dem sie entnommen wurden, vergessen hat.

Bände über Bände füllen allein die Gedanken zu einem einzigen Zitat: „Ich schau Dir in die Augen, Kleines“.
Zuallererst wird ziemlich oft falsch zitiert. Man findet überraschend oft den Satz: „Schau mir in die Augen, Kleines!“

Falsch!

Im ganzen Film wird nie jemand aufgefordert, jemandem in die Augen zu schauen. Die Produzenten der deutschen Synchro-Fassung beschlossen damals, da sie auf der Originaltonspur „Here’s looking at You, kid“ (eine Abwandlung des Trinkspruchs: „Here’s to Your good luck“, sagt man) zu hören glaubten, Rick sagen zu lassen: „Ich schau Dir in die Augen, Kleines“. Wenn immer ich Casablanca im Original sehe, höre ich Bogart nuscheln: „He’s looking at You, kid“, und verstehe es als Aufforderung an Ingrid Bergmann, ihre Tränen zu verbergen, da die ergreifende Abschiedsszene von Victor Laszlo, der auf der Gangway wartet, beobachtet wird. Im Originalscript fehlt der Satz vollständig, alle Beteiligten sind tot und jeder Rezensent wird bei der Überzeugung bleiben, daß seine Sichtweise die richtige ist. Ich auch…

Doch ich erinnere mich, eingangs über Gerüchte und Legenden geschrieben zu haben. Aus all den Geschichten um und über Casablanca möchte ich ein paar herausgreifen, die sich als wahr erwiesen haben:

Da wäre die Geschichte mit der Holzkiste, auf der Bogart angeblich stand, wann immer er eine Szene mit Ingrid Bergmann zu spielen hatte, um den doch erheblichen Größenunterschied zu kaschieren. Wahr. Leider, denn erfahrungsgemäß sieht man den Film mit ganz anderen Augen, sobald man dieses im wahrsten Sinne kleine Detail kennt. Gut, vielleicht war die Kiste nicht aus Holz, vielleicht war es gar keine Kiste, sondern ein speziell angefertigtes Podest, aber was ändert das schon? Denken Sie daran, wenn Casablanca das nächste Mal im Fernsehen läuft; am besten bei einer dieser romantischen Umarmungen und stellen Sie ich vor, die Kiste wäre aus Holz gewesen – aus brüchigem Holz… Muß ich deutlicher werden?

Wenn man die Literatur zu Casablanca durchforstet, stößt man immer wieder auf den Hinweis, daß der Film in Josef Göbbels einen großen Verehrer hatte. Ich konnte diese Geschichte nicht wirklich verifizieren, weiß aber, daß Göbbels auch eine geheime Privatkopie von Lubitsch’s Sein oder Nichtsein (USA 1942) besaß, die immer dann im privaten Vorführsaal lief, wenn der Propagandaminister sich wieder einmal besonders über den Führer geärgert hatte. Infolgedessen kann ich mir durchaus vorstellen, daß auch Curtiz‘ gekonnte Seitenhiebe gegen Nazideutschland seinen Zuspruch gefunden hatten.

Schließlich und endlich möchte ich bestätigen, daß Casablanca tatsächlich mit nur geringfügiger Verspätung von zehn Jahren dem deutschen Publikum präsentiert wurde. Allerdings mit nicht ganz so geringfügigen Änderungen: Die erste offizielle deutsche Synchrofassung erzählt uns die Geschichte eines Wissenschaftlers, der versucht, seine geniale Erfindung, die Delta-Strahlen vor einer unsichtbaren Macht (im wahrsten Sinne des Wortes, denn diese Macht tritt im ganzen Film nicht auf) zu verstecken. Die Plotänderungen waren nötig, da man davon ausgegangen war, daß es besser wäre, sämtliche Szenen, in denen Nazis vorkamen, zu eliminieren. Pfeilschnell hatte man erkannt, daß ein Abenteuer ohne Bösewichte kein so richtiges Abenteuer war und besann sich auf die willkommene Gefahr aus dem Dunkel. Schließlich ist doch auch ein Feind, den man nicht sieht um einiges bedrohlicher, oder? Diese äußerst spaßige Fassung wird immer wieder mal versehentlich auf einem der Dritten Programme gezeigt und ist ohne Frage empfehlenswert!

Und nun zu einem neuen Gerücht, in die Welt gesetzt von den Betreibern der Schaubühne, die uns auf ihrer Webpage versprechen,“?[…] endlich das vollständige Original […] mit neuen Kopien“ zu zeigen. Dabei wird uns suggeriert, daß seit 1952 in Deutschland nichts anderes, als die Delta-Strahlen-Fassung zu sehen war und uns nun endlich in der Schaubühne die Augen für die integrale Fassung geöffnet werden. Dieses Gerücht erwies sich als falsch!

Ich bin kein Experte für Casablanca, aber was mir in der Schaubühne als „neu“ vorgesetzt wurde entsprach nicht nur der Originalfassung (wie versprochen), sondern auch der am 5. Oktober 1975 auf ARD uraufgeführten, ebenfalls ungeschnittenen Synchrofassung, die seitdem mit minutiöser Regelmäßigkeit durch die öffentlich rechtliche Kanäle geistert. Die DDR zeigte übrigens eine eigene synchronisierte Fassung bereits etwa zwei Jahre früher, ein genaues Datum war allerdings nicht zu ermitteln.

Es ist nicht nötig, das Publikum mit neuen alten Fassungen ins Kino zu locken, wenn der Film Casablanca heißt! Schon allein die Tatsache, das Ganze mal nicht vom Sofa aus betrachten zu müssen, sollte genügen. Vielleicht zeigt die Schaubühne ja als Wiedergutmachung für dieses kleine Verwirrspiel mal zur Abwechslung die alte deutsche Fassung.

Ich wäre dabei!

Schaubühne Lindenfels, 14. September 2002


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