„Auf dem Land” von Martin Crimp, Premiere (Anna Kaleri)

20.09.02,Schauspielhaus Leipzig, Neue Szene

?Auf dem Land? von Martin Crimp (Premiere)

Regie: Enrico Lübbe

Es spielen:
Bettina Riebesel
Bettina Schneider
Andreas Keller


Wieviel wiegt ein Psychogramm?
Auf dem Land gefangen zwischen Wut und Schweigen

Eine Minute Schweigen wirkt auf der Bühne wie eine Ewigkeit. Ein Ehepaar am Abend, trautes Beisammensein, er mit Zeitung, sie schneidet Bilder aus, und zwischen ihnen das Schweigen, das alles bedeuten kann. Aus diesem Anfangsbild heraus entwickelt sich das Stück des erfolgreichen britischen Jungdramatikers Martin Crimp zu einem Drei-Personen-Kammerspiel, bei dem in einer einzigen Nacht und mit minimaler Handlung erschütternde Möglichkeiten aufklaffen.

Richard (Andreas Keller) ist mit Frau Corinne und Kindern aufs Land gezogen. Doch scheint das Landleben wie das Leitungswasser einen ungewohnten, wenn nicht gar vergifteten Beigeschmack zu haben. Die Stadtvergangenheit holt das Ehepaar in Gestalt eines Mädchens ein, dass Richard angeblich bewusstlos auf einem Feldweg gefunden und in sein Haus gebracht hat. Weil es als Arzt sein Beruf sei. Doch der Ausdruck von Hinwendung in seinem Gesicht ließ seine Frau ahnungsvoll eifersüchtig werden. Bettina Riebesel verkörpert die manipulierende Kraft der Weiblichkeit, deren Mundwinkel etwas anderes zu sagen schienen als sie.

Ein Nachbar, der nur am Telefon und in Gesprächen auftaucht, treibt die Handlung voran, gewinnt mit seinem Wissen über den Tod eines Hausbesuchspatienten Macht über Richard. Mehr als zu erwarten, gerät der Arzt aus der Fassung. Inzwischen entdeckt Corinne neue Details, eine Tasche mit Spritzen und Adressen, möglicherweise Indiz dafür, dass Richard seine Drogenabhängigkeit und Dealerei nicht in der Stadt hinter sich gelassen hatte. Die Möglichkeiten werden nicht ganz geklärt, stehen im Raum, werfen ethische Fragen auf, auch die Frage, wie weit man seinen Nächsten kennt und ihm vertrauen kann.

Als der Arzt zur Arbeit gerufen wird, somit dem Verhör seiner Frau entfliehen kann, steht das Mädchen selbst (Bettina Schneider) im Raum, nixenartig mit zum Zopf geflochtenem Haar. Das noch im Rausch hängen gebliebene, naiv wirkende Mädchen entfaltet sich genau wie ihr Haargeflecht im Haus – mit einer Impertinenz, die nicht recht zum Verdacht der Ehefrau passen will, ihr Mann hätte das Mädchen vergewaltigt. Ihren Mann und sich zum ?Wir? vereinnahmend, will sich Corinne entschuldigen, sie fleht das Mädchen an, beiden zu verzeihen.

Wie die Begegnung der Nixe mit der Hexe ausgeht, wissen wir nicht. Der Ausgang verschwindet im Black zwischen den Szenen, in dem Kinderstimmen einen englischen Abzählvers deklamieren: ?One, two, three and you are out.?

Der Arzt wird von seinem Doppelleben in die Enge getrieben, denn in der nächsten Szene entkleidet sich die junge Frau, entpuppt sich als langjährige, missbrauchte Geliebte, um deretwegen er aufs Land zog und die nun beginnt, ihr Recht einzufordern. Wut und Gewalt liegen in der Luft. Die Figuren reden und sind im Sprechen gefangen. Der Arzt verteidigt das Leben, dass er sich aufgebaut hat. Hat seine Frau ihn samt Kindern verlassen? Auf leisen Sohlen kehrt er aus den Schlafräumen zurück. Black.

Ein Mann schenkt seiner Frau in überschwänglicher Liebenswürdigkeit Rosen. Letzte Szene. Richard und seine Frau. Ihr schenkt er Schuhe, die selben, die seine Geliebte trug. Er verwandelt seine Frau in sein Sexobjekt und sie verwandelt sich in das Mädchen, wie es dachte und fühlte, unternimmt den gleichen Ausflug, den das Mädchen damals unternahm, setzt sich auf den gleichen thronartigen Stein – einer Art Geschichtsobjekt – und spürt die Kälte des Steins und wie er begann, ihr Herz zu fressen. Sie spricht ohne Regung, während ihr Gesicht tränennass wird, so abgespalten sind diese Regungen von ihrem bisherigen Selbst, sie, die zur Komplizin eines Mordes wurde, wie man beginnt zu ahnen, sie fragt, ob man den Rest seines Lebens damit verbringen kann, Liebe vorzutäuschen.

Das Stück berührt Existentielles, hebt Grundfesten unmerklich aus den Angeln. Mit einer präzisen, unterschwellig metaphorischen Sprache. Und so schlicht und wirksam kann Theater in Leipzig sein, unter der Regie von Enrico Lübbe, subtil und der Vielschichtigkeit Raum lassend zum Atmen. Zum Schweigen.

Viel Applaus trotz innerer Betretenheit. Ein Psychogramm, dass sich schwer aufs Wohlbefinden legt.

(Anna Kaleri)

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