Nebulöse Wissenschaft, bildgewaltige Fiktion

Oder: Ich möchte Teil einer SF-Bewegung sein – Die 6. Elstercon

Seltsame Dinge geschehen im Haus des Buches an diesem Wochenende. Menschen mit glasigen Blicken und angesteckten badges bevölkern die Säle des Leipziger Literaturtempels, auf der Suche nach zukunftsgewandten Visionen, alten Mythen und raren literarischen Schätzen der sogenannten Science Fiction. Im Eifer des Gefechts dauert es eine Weile, bis Rezensenten ihre Pressekarten erhalten und endlich Zutritt zu den heiligen Hallen des Genres und seiner literarischen Stars erlangen. Im Saalfoyer haben umtriebige Buchhändler lieblos ihre Umzugskartons umgestülpt und bieten ihre mitunter hochdotierten Waren feil, derweil im großen Saal einige verwegene Zuhörer den Ausführungen zweier Schwyzerleut zu Paul Alfred Müller, einem Vorreiter der Science Fiction und gebürtigem Hallenser, lauschen.

Inmitten all der vergilbten Heyne-, Goldmann- und sogar Suhrkamp-Taschenbuchausgaben hat der renommierte Phantasie-Literaturverlag Shayol aus Berlin seinen Stand aufgebaut, man hört die Lektoren fachsimpeln; dem Händler am Nebenstand sind zu diesem Zeitpunkt bereits alle vorhandenen H.P. Lovecraft-Ausgaben förmlich aus den Händen gerissen worden. Immerhin hat er noch eine frühe Ausgabe des Philipp K. Dick-Klassikers „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“ (die literarische Vorlage zu „Blade Runner“) zu bieten: zum Preis von schlappen 14 Euro für ein nahezu zerfleddertes Heyne-Paperback. Dem Interessierten bietet sich ein Schreckensszenario: neben dem üblichen Taschenbuchramsch billiger Stephen King-Romane stehen Schätze wie zwei frühe Ausgaben von Meyrinks „Golem“: Die Science Fiction, wie sie in die Welt kam.

Im großen Saal packen wenig später die Söhne des Sun Koh ihre Projektorfolien zusammen, um das Podium für Thomas R.P. Mielke zu räumen, seines Zeichens Bestsellerautor historisch-phantastischer Romane mit starkem Hang zur Nachdichtung mythologischer Stoffe, sowie Miterfinder solch wichtiger Genußmittel wie TicTac und des Kinderüberraschungseies (in einer mitgelieferten Vita wird er ferner als ehemaliger Pralinenvorkoster des Hauses Ferrero geadelt). Mielke holt mit seinem neuestem Werk dann auch weit aus: es handelt sich dabei um eine Nachdichtung des Ariost-Stoffes „Orlando Furioso“, der Geschichte des Ritters Roland, welcher über eine unglückliche Liebe wahrhaft den Verstand verliert, welcher dann von einem Kameraden heldenhaft und nach unzähligen Kämpfen wiederbesorgt wird.

Mielke liest aus seinem Roman und läßt es sich nicht nehmen, die Zuhörer in kurzen Lesepausen auf die mythologischen und historischen Hintergründe des Stoffes hinzuweisen. Was in Ariosts Original, einem Text der Früh-Renaissance allerdings humorvoll und voller Ironie zum Spiel mit religiösen Mythen und Sagen geriet, erhält bei Mielke eine grauenvolle Umdeutung zum prophetischen Ritterepos, zu einer Art Science Fiction des Mittelalters. Der Autor doziert und liest und schwärmt und lobt die quasiprophetischen Gaben des Textes, weist auf intertextuelle Zusammenhänge hin und zeiht den großen Tolkien des Ideenklaues bei Ariost. Unterzeichnender und Namensvetter des Titelhelden, gleichsam vor soviel Information und Redundanz dem Verlust seines Verstandes nahe, sehnt sich nach dem Ende der Lesung und einem Kaffee in der anschließenden Pause. Die Unmöglichkeit einer Romanversion des mittelalterlichen Stoffes, auf die der Autor während seines Vortrages wiederholt hinwies, ist eine buchgewordene, wie sich die Zuhörer der Lesung anschließend am Büchertisch überzeugen können (T.R.P. Mielke: Orlando Furioso. Roman. Berlin: Rütten & Loening 2002.).

Die Rezensenten zieht es zum nächsten Vortrag, der indes eine Annäherung an das eigentliche Thema der 6. Elstercon verspricht. Dr. Reiner Tetzner aus Leipzig spricht über die Rolle von Tieren in der Mythologie. Wird die Macht mit uns sein? Zeit für einen Bericht aus der Zwischenwelt! Wollten Sie schon immer wissen, warum in der Mythologie Tiere auftauchen, wieso Zeus sich in geeigneten Momenten in Stiere, Schwäne und sonstiges Getier verwandelte? Ich auch… Klärung dieser weltbewegenden Fragen erhoffte ich mir in Dr. Tetzners Vortrag im Rahmen der Elstercon.

„Mein Fachgebiet ist die vergleichende Mythologie.“ und „Ich muß gleich zu einem Klassentreffen nach Dresden“, sind die einzigen zusammenhängenden Sätze, an die ich mich nach etwa 30 Minuten Vortrag erinnern kann. Obwohl – war das wirklich ein Vortrag? Unter hektischem Hin- und Herschieben scheinbar ungeordneter Zettel, gekrönt mit unzähligen Äääähs und Einwürfen wie „…das laß‘ ich jetzt mal weg…“ bekam der, der genau hinhören und zwischen den Zeilen lesen kann, die Information, daß die großen monotheistischen Religionen (exemplarisch: das Christentum und der Islam) dem Tier eine dem Menschen untergeordnete Rolle zugestehen, während der Hinduismus (Überraschung) von dem Grundsatz der Gleichstellung aller Lebewesen ausgeht… Nachdem eine Zuhörerin in der anschließenden „Diskussion“ die Frage stellte, wieso denn Wölfe in verschiedenen Mythen so unterschiedlich bewertet wären (und Referentem somit eine letzte Chance gab, auf das Thema einzugehen!), wurde sie mit der Antwort abgespeist: „Ich bin vergleichender Mythologe, da kann ich mir doch nicht einzelne Viehcher herauspicken!“

Für dreißig Minuten schaffte es Herr Dr. Tetzner, mich in der Zeit zurückeilen zu lassen, in das kreidestaubvernebelte Klassenzimmer der 9d des Gymnasiums Bad Tölz (Altbau ?dritter Stock), wo Herr Pfarrer Auer (seines Zeichens Lehrbeauftragter für katholische Religionslehre) tapfer die Referate seiner Zöglinge über sich ergehen ließ. Herr Auer hätte sich gefreut, wenn einer von uns die großen Religionen auf einer derartigen Basis miteinander verglichen hätte. Er hätte aber auch seine ? in viele nette Worte verpackte ? Kritik angebracht: „Des war schön, Bub. Aber beim nächsten Mal mußt‘ a bisserl besser beim Thema bleiben und bitte: ganze Sätze, gell!“ Ich weiß nicht, was Herr Auer gesagt hätte, wenn er denselben Vortrag, den er von uns Neuntklässlern gewohnt war, von einem promovierten Philosophen und Verfasser mehrerer themenbezogener Werke gehört hätte.

Im weiteren Verlauf des Nachmittages geht dann der Vorhang auf für die eigentlichen Helden der Science Fiction, die Autoren. Aus England bzw. den USA sind Tim Powers, Paul McAuley und Mary Doria Russell eigens angereist, um den Leipziger Science-Fiction-Freunden aus ihren neuen Werken vorzulesen. In der Tat nimmt nun die Resonanz beim Publikum deutlich zu, der große Saal füllt sich zusehends. Buchpremieren, Lesungen, Verlagspräsentationen: der Geist der Zukunft auf bedrucktem Papier zieht das Publikum magisch an, wo vorher akademisches Flair vor leeren Rängen über die Geburt der Science Fiction aus dem Geiste der Mythen und Weltreligionen dozierte.

Am frühen Abend sind dann, inklusive Autoren und Verlagsvertreter, nur noch rund drei Dutzend Besucher vertreten, um bei der Vergabe des Kurd-Laßwitz-Preises für Science-Fiction-Literatur den Kunstschaffenden Applaus zu spenden. Der im Jahresturnus vergebene Preis zeichnet Literaten, Graphiker und Übersetzer für ihre Tätigkeit im Bereich der Genreliteratur aus, namentlich in den Sparten „Bester deutschsprachiger Science-Fiction-Roman“, „Beste deutschsprachige Science-Fiction-Kurzgeschichte“, „Bestes ausländisches Werk“ , „Beste Übersetzung zur Science Fiction ins Deutsche“, „Beste Graphik zur Science Fiction“, „Bestes deutschsprachiges Science-Fiction-Hörspiel“ sowie ein Sonderpreis für „herausragende Leistungen im Bereich der Science Fiction“. Letzterer wird an Hardy Kettlitz verliehen, Chefredakteur der einflußreichen Alien-Contact-Reihe und Organisator der „Berliner Tage der Phantasie“. Die weiteren Preisträger, von denen zum Leidwesen des Publikums nur der Autor Andreas Eschbach und der Graphiker Thomas Thiemeyer bei der Preisverleihung anwesend waren, seien hier noch einmal in aller gebotenen Kürze vorgestellt:

– Bester deutschsprachiger Science-Fiction-Roman: Andreas Eschbach, Quest (Heyne Verlag)
– Beste deutschsprachige Science-Ficiton-Kurzgeschichte: Wolfgang Jeschke, Allah akhbar And So Smart Our NLW’s (Heyne Verlag, in: W. Jeschke: Reptilienliebe)
– Bestes ausländisches Werk zur Science Fiction: Connie Willis, To Say Nothing of the Dog (deutsch: Die Farben der Zeit, Heyne Verlag)
– Beste Übersetzung zur Science Fiction ins Deutsche: Christian Lautenchlag für die Übersetzung von Connie Willis‘ Die Farben der Zeit (Heyne Verlag)
– Beste Graphik zur Science Fiction: Thomas Thiemeyer für das Titelbiold und die Illustrationen zu Andreas Eschbachs Quest (Heyne Verlag)
– Bestes deutschsprachiges Science-FictionHörspiel: Walter Adler, Tokio liebt uns nicht mehr nach Ray Loriga (Erstausstrahlung WDR 13. und 20.9.2001)

Höflich nahmen die Preisträger ihre Urkunde entgegen, sofern sie anwesend waren, der eine oder andere schickte per email Dank und Gruß an Publikum und Juroren. Insgesamt hinterließ die Preisverleihung einen ebenso ambivalenten Eindruck wie die gesamte Convention. Vieles wirkte improvisiert, unbeholfen, lieblos. Die Auswahl der Autoren war nicht unbedingt auf die eigentliche Thematik der ELSTERCON abgestimmt, manch einer der Vortragenden schien während seines Auftritts auf merkwürdige Weise indisponiert zu sein (s.o.). Dem interessierten Laien bot sich an diesen drei Tagen der Eindruck einer geschlossen in sich ruhenden Fangemeinde, fast eines geschlossenen Systems, um mit Luhmann zu sprechen. Die Systemumwelt wurde mit wenigen Ausnahmen kaum wahrgenommen, das System befruchtete sich selbst. Beim Verlassen des Gebäudes bekommen wir einen Flyer in die Hand gedrückt: eine Einladung zur DORTCON im nächsten Herbst. Vielleicht gehören wir ja nun dazu.

6. ELSTERCON: „Geschichten von Phönix und Sperling“
20. und 22.9.2002, Haus des Buches
www.fksfl.de
www.kurdlasswitz.de
www.alien-contact.de
www.shayol-verlag.de
www.orlando-furioso.net

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.