„Strategie eines Schweins” von Raymond Cousse (Roland Leithäuser)

„Strategie eines Schweins“ von Raymond Cousse im theater fact
28. September 2002
Die Haltung und Ermordung eines Schweins dargestellt durch den Schauspieler Stanislaw Brankatschk des nt-Halle unter Anleitung der Frau Anne-Marie Fliegel

Wie Marat in seiner Wanne sitzt Stanislaw Brankatschk, ein Mastschwein gebend, auf einem gewöhnlichen Stuhl vor einem gewöhnlichen Tisch, von Gittern umgebend, die das Eingesperrtsein des bedauernswerten Tieres andeuten. 240 Tage lang lebt das suis domesticus, das gewöhnliche Mastschwein durchschnittlich, bis es zur Schlachtbank geführt wird. Raymond Cousses Stück versteht sich als Allegorie auf das menschliche Dasein, ein Schweineleben, nicht unähnlich so mancher menschlichen Existenz.

Die spartanisch gehaltene Inszenierung, begleitet vom Summen eines Diageräts, welches am Ende jedes Aktes Bilder von sich suhlenden Sauen auf eine Leinwand projiziert, lebt von den Ausbrüchen seines Protagonisten. Tatsächlich beherrscht Brankatschk die Gestik und Mimik des Schweins in eindrucksvollem Maße, seine Grunzlaute zeugen von Identifikation mit seiner Rolle. Nuanciert sind seine Monologe, die vom leisen, weinerlichen Lamentieren über die frühe Entmannung bis zum lautstarken Ausbruch über den ungehobelten Umgang des Wärters mit dem Revier des Schweins reichen. Was hat ein Schwein schon zu erzählen? Allemal mehr als es dem Menschen recht sein darf: Von der Ausstattung des Käfigs, dem Stroh, dem Schlafplatz aus eigenen Fäkalien geformt, von schweinischer Liebeskunst und der schmerzhaften Kastration ist hier die Rede.

Belustigt verfolgt das Publikum die zunehmende Panik des Schweins, in seiner kleinen Kammer den Tod erwartend, den höchsten Zweck seines Lebens, seine Wiederverwertung und sein Weg in die Welt respektive die Fleischereifachgeschäfte der Städte und Nationen. 105 Kilogramm Lebendgewicht (der Schauspieler indes besitzt dieses Kampfgewicht nicht) stemmen sich gegen das unabwendbare Schicksal, den Tod und die folgende Apotheose in Form von Schinken, Fleisch- oder Blutwurst. Zugegeben, der Mensch erleidet in der Regel ein solches Ende nicht, und doch sind gewisse Parallelen aus diesem inneren Monolog zu ziehen. Das Geworfensein von Mensch und Schwein, so mag Cousses Stück suggerieren, sich nur graduell unterscheiden, während Enge, Langeweile und sexuelle Frustration bei beiden Spezies nahezu gleich stark ausgeprägt scheinen. Man denke, und dieser Vergleich drängt sich während der Aufführung im theater fact fortwährend auf, an die Monologe des Weiss’schen Jean-Paul Marat, den Tod antizipierend in seinem Bade ausharrend: „Was jetzt geschieht ist nicht aufzuhalten“

Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Nach einer guten Stunde versinkt das schauspielernde Schwein in absoluter Dunkelheit, die Stunde der Schlachtung ist gekommen. Freundlicher Applaus vom Publikum für eine überzeugende Darbietung, obschon die vielleicht intendierte Tiefgründigkeit des Stückes zu den Zuschauern (in der Mehrzahl Angehörige einer Hochzeitsgesellschaft) nicht so recht durchdringen wollte: man freute sich in der Hauptsache auf das kalte Büffet hinterm Bühnenvorhang. Dem Interessierten jedoch sei zur Vertiefung der Thematik ein weiteres Werk Raymond Cousses empfohlen, welches einem ähnlichen Thema verschrieben zu sein scheint: „Strategie für zwei Schinken“, ein Roman aus dem Jahr 1978.

(Roland Leithäuser)

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