Unbequemes Thema

Hubert Gerlach über die Aufarbeitung der NS-Zeit in der DDR

Warum Hubert Gerlach eine lange Odyssee hinter sich bringen musste, bevor sein Werk in der vorliegenden Fassung veröffentlicht werden konnte, wird schon auf den ersten Seiten deutlich. Da ist vom Vater die Rede, der sein ganzes Leben versucht, arischen Familienverbindungen zu finden, um seine jüdischen Vorfahren zu vergessen. Da wird in wenigen Zeilen der Parteifunktionär erwähnt, der schon in der Nazi-Zeit kein unbeschriebenes Blatt gewesen ist. Zu guter Letzt ist da der verschollene Bruder, der aus dem Zweiten Weltkrieg nicht nach Hause zurückkehrte.

Erstmals wurde das Buch 1973 einem Verlag vorgelegt und abgelehnt. Als 1976 das Manuskript angenommen wurde, verzögerte der Verlag die Fertigstellung immer wieder. Auf der Leipziger Buchmesse 1986 bereits angekündigt, wurde es auf Anordnung höchster Kreise wegen angeblicher antisowjetischer und antisozialistischer Tendenzen zurückgehalten. 1988 ohne vom Verfasser autorisierte Änderungen veröffentlicht, dauerte es bis zum Jahr 2002, ehe das Buch in seiner ursprünglichen Fassung erscheinen konnte.

Im Mittelpunkt steht die Suche des Ich-Erzählers nach dem jüngeren Bruder Benjamin. Dieser wurde nach Kriegsende von sowjetischen Geheimdienstleuten zu einer „Befragung“ abgeholt und kehrte nicht mehr zurück. Später stellt sich heraus, dass der Partei-Funktionär Fuchs-Kretschmer eine Liste aufgestellt hatte, welche die Namen der Männer enthielt, die noch für den „Werwolf“ kämpfen mussten. Dazwischen fließen eigene Kriegserinnerungen des Erzählenden ein, werden Episoden aus dem Leben des Vaters an das Tageslicht gebracht. Der Vater ist eine Getriebener. Der Brief, der ihm mitteilt, dass er jüdische Vorfahren hat, wird für ihn zur Wendemarke. Als im Brunnen ein Skelett gefunden wird, sieht man sich der Lösung des Falles ganz nahe. Doch gibt es noch eine überraschende Wendung. Das Skelett sind nicht die sterblichen Überreste Benjamins. Sie stammen von einem Skelett, das viele Jahre im Arbeitszimmer des Vaters gestanden hat.

Die interessanteste Person des Romans ist der Parteifunktionär Fuchs-Kretschmer. Gerlach entlarvt hier in prägnanten Sätzen, was in der DDR nicht sein durfte und angeblich nur in der damaligen BRD vorkam: NS-Funktionäre, die nach dem Krieg gleich wieder Karriere machten. Diese Passagen lesen sich spannend und die Sätze machen klar, warum dieses Buch in der DDR nicht erscheinen durfte. Es brach mit einem Tabu. Gerlach beschreibt, leider viel zu kurz, wie schwierig die Aufarbeitung der NS-Geschichte in der DDR war. Fragen, wie nach dem frühen Tod des Bruders, waren in einer solcher Umgebung sofort suspekt. Zwischen diesen Passagen muss sich der Leser aber mit vielen Details befassen, die von diesem wichtigen Gedanken wegführen. Hier merkt man, dass dem Autor ein wenig die Distanz fehlt. Das ändert nichts an dem Verdienst, einem wichtigen Thema deutscher Geschichte, einen Platz gegeben zu haben.

Hubert Gerlach: Niemandes Bruder
Verlag Die Scheune, Dresden, 2002
156 Seiten, 12,40 Euro

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