14. Oktober 2002, Neue Szene
mund & knie 1
mund & knie hat Hand und Fuß
Sie wollten schon immer dem Wechselgesang zwischen Kehlkopf und Kniekehle lauschen? Den Grenzbereich erfahren von Sprache und Musik? Sie lieben Nonsens und sind in Ihrem tiefsten Inneren trotz aller sozialkritischer Tendenzen im Theater ein Dadaist? Dann haben Sie wirklich etwas verpasst, wenn Sie nicht am 14.10.02 in der Neuen Szene bei mund & knie anwesend waren.
Genauer gesagt: mund & knie 1. Der Auftakt einer neuen Reihe, die vom Leiter der Schauspielmusik Thomas Hertel initiiert wurde. Was er mit seiner engagierten Schauspieltruppe auf die Bühne gebracht hat, lässt sich nur ansatzweise umschreiben, ist es ja gerade das Nonverbale, der Grenzbereich, wo Sprache zu Klang, zu Geräusch wird, was diesen Abend ausgemacht hat. Lanke tr glll, um mit Schwitters zu sprechen, das Ergebnis war genial.
Wie spricht man Musik, fragt Jean Tardieu. Im gleichnamigen ersten Stück des Abends beantworten drei befrackte Schauspieler diese Frage, bestückt mit je einem Gong und einer mit Wasser gefüllten Blechwanne. „Es begann mit einer großen Wasserfläche am Abend“ und endete mit „ich erinnere mich“. Die Sprache wurde gedehnt, gekaut, immer wieder blickten die Protagonisten ernsthaft in ihre durch Folien geschützten Notenblätter und zelebrierten ihr Wispern, Plantschen und Gongschlagen. Danach hatten die Bühnenarbeiter erst einmal damit zu tun, die Bühne wieder trocken zu legen.
Kennen Se de dre Chenesen? Dei drei Cheineisein meit deim … Sie wissen schon, jenem süßkind’schen Hass- und Liebesobjekt? In Variationen, trippelnd mit China-Klischees spielend, trat immer wieder ein Trio auf, begeisterte das Publikum und entlockte dem unhandlichen Instrument ungeahnte Klänge. Am Ende jeder Variation marschierte ein Polizist auf und wies die Musiker in die Schranken, sein „Ja, was ast dann das?“ ins Megafon brüllend.
Auch der nächste Umbau der Bühnenarbeiter wurde fast zur Performance, die ungewohnten Klänge hatten die Ohren auf eine Weise geschärft, dass man in den Bohrgeräuschen, die vom Aufbau der Projektionsleinwand herrührten, Musik vernahm.
Dahinter nahm der Requisiteur Sebastian Hubel Platz und führte mit einem Geräuschmonolog durch alle Lebensalter. Vom Babyschrei, über Liebesgestöhn hin zum zahnlosen Gebrabbel des Alten konnte man seinem Schattenriss folgen. Diesem Stück vorangestellt war ein Monolog des Narren aus Shakespeares „Wie es euch gefällt“, der, eben in Shakespeare’scher Sprachmanie(r), dasselbe Thema behandelte.
Als Höhepunkt des Abends erklang Kurt Schwitters‘ „Ursonate“ in einer bisher nie gehörten Bearbeitung von Thomas Hertel für 9-kehlköpfiges Schauspieler-Stimmen-Körper-Orchester und Dirigenten. Drei Soprane, drei Tenöre und drei Bässe mischten Sprach- und Gefühlsaktionen, rhythmische Deklamation wechselte sich ab mit an Sprechübungen aus dem Kleinen Hey erinnernden Aktionen. Da wurden lasziv Kaugummis gezogen, gerülpst, gekreischt, ein rollendes „R“ mündete gar in den Lärm einer Motorsäge.
Das lange Werk wurde nochmals von zwei weiteren Kontrabass-Variationen unterbrochen. In der letzten wurde das schöne Instrument zum großen Kummer der dünnbärtigen Chinesen zu Grabe getragen.
Viel Applaus galt einem bunten, spielerischen Programm, Schauspielern, denen der Spaß an der Sache von Anfang an anzusehen war, und einer witzigen Veranstaltungsreihe, die hoffentlich bald fortgesetzt wird. Der ausverkaufte Abend sollte alle Beteiligten darin bestärken.
Einziger Wehrmutstropfen: Diesen Abend gab’s wohl in seiner Zusammensetzung nur heute zu sehen-hören-erleben-genießen, da aus organisatorischen Gründen eine Wiederholung kaum möglich ist. Doch mund & knie 2 wird nicht lange auf sich warten lassen. Dadaisten aller Länder, nix wie hin!
(Babette Dieterich)
Kommentar hinterlassen