Serelytes magischer Surrealismus

Die Autorin liest aus ihrem Roman „Sterne der Eiszeit“

Beim Blättern in dem Begleitheft zu ihrem Roman „Sterne der Eiszeit“ fällt mir sofort die Eigendefinition der 32jährigen Litauerin Renata Serelyte auf, die „ihren literarischen Ansatz“ als „magischen Surrealismus“ bezeichnet. Dieser Begriff ist mir neu und darum um so geheimnisvoller. Was verbirgt sich dahinter? Ist es eine intellektuelle Spielerei einer jungen Autorin, die sich ihrer Randstellung und Unbekanntheit in der europäischen Literatur bewußt ist? Während ich mit diesen Fragen beschäftigt bin, betreten Renata Serelyte und Akvile Galvosaite, die Übersetzerin des Romans, das Podium. Frau Serelyte sieht nicht so aus, als wäre sie nicht mit beiden Beinen auf dem Boden geblieben. Zurückhaltend und dennoch selbstbewußt scheint der Empfang für sie immer noch ungewohnt zu sein – der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt -, obwohl sie bereits den Zemaite-Preis für ihren Roman erhalten hat.

Da Frau Serelyte kein Deutsch spricht, stellt Akvile Galvosaite die Autorin vor und führt in das Buch ein. Darin werde die Entfremdung eines Mädchens beschrieben, das bis zum Abitur auf dem Dorf aufwächst und danach in die Hauptstadt geht, wo sie studiert und arbeitet. Der Roman selbst bestünde aus lauter Versatzstücken, die sich mosaikhaft zusammenfügten: Zu finden seien nicht nur die unterschiedlichsten Textsorten und Gattungen, zu beobachten sei nicht nur ein ständiger Wechsel von ernsthaften zu ironisch witzigen Tönen, sondern auch ein breitgefächertes Vokabular – sogar naturwissenschaftliche Fachausdrücke würden benutzt, um vordergründig lebende oder ausgestorbene Tierarten und hintergründig den Menschen selbst zu beschreiben. Am prägnantesten sei aber, daß die realistische Beschreibung des tristen Lebens in dem seit 1991 unabhängigen Litauen den Ausgangspunkt für die zahlreichen Anspielungen auf die Weltliteratur, auf typische Volkserzählungen ebenso wie auf die klassische und die speziell litauische Mythologie bilde.

Um diese Eigenheiten des Romans zu verdeutlichen, liest Frau Galvosaite jeweils ein Kapitel aus den zwei Romanteilen vor, die mit „Sterne des Wermuts“ und „Sterne des Pflasters“ betitelt sind und die zum einen das Leben des Mädchens im Dorf und zum anderen das Leben der jungen Frau in der Großstadt schildern. Erzählt wird aus der Perspektive des Mädchens bzw. der Frau, in deren Bewußtsein sich eben diese Mischung zwischen Realität und Traum, zwischen echtem und groteskem Erleben vollzieht. Beispielsweise bezeichnet sie das Dorf, in dem sie aufwächst, als Orangerie. Die Figuren, die Dorfbewohner, sind aus den edelsten Steinen gemeißelt und zu Leben erweckt worden. An anderer Stelle vergleicht sie die Augen eines Menschen mit Froschaugen, die wiederum wie der Teich aussehen, in dem der Frosch lebt oder umgekehrt, der Teich selbst gleicht den Froschaugen.

In der Stadt arbeitet sie dann bei einem Chef, der noch ganz den Gepflogenheiten der Sowjetzeit verhaftet ist. Auf satirische Weise spiegelt sie seine selbstgefällige Denkart und stigmatisiert damit die städtische Gesellschaft, in die sie sich nicht einleben kann. Gleichzeitig hat sie den Eindruck, daß ein unsichtbarer Stern auf ihrer Stirn wie ein Brandmal die Menschen von ihr fernhält. In ihrer Einsamkeit wendet sie sich an andere Gesprächspartner: Da ist ihre Arbeitsmappe, mit der sie sprechen kann und da ist ihr Kaktus, um dessen Wohlbefinden sie sich liebevoll wie bei einem Kind kümmert.

Ihr Gefühl der Isolation steigert sich an anderer Stelle ins Unermeßliche, als sie in ein Gefängnis geschickt wird, um eine Reportage über den Besuch einer Cancan-Tanzgruppe zur Erbauung der Häftlinge zu schreiben. Ihr beklemmendes Gefühl, in eine vollkommen feindliche Welt zu geraten, drückt sich in ihren Beschreibungen aus: Die Bühne der Tänzerinnen erscheint ihr wie der Schlund des Leviathan. Die Tänzerinnen sind fette Frauen mit weißen Rüschenunterröcken, aus denen dann und wann etwas Rosafarbenes hervorschimmert. Die Häftlinge nennt sie entweder Zebras oder ein Meer rasierter Köpfe, unter denen ihr derjenige, der sie begrüßt, besondere Angst bereitet: In seiner Art erinnert er an Rumpelstilzchen, er rasselt ohrenbetäubend mit seinen Schlüsseln, indes er erzählt, daß er wegen einer Kleinigkeit hier sei: er habe lediglich einen Menschen umgebracht.

Nach den vorgetragenen Passagen setzt Frau Serelyte mit einem auf litauisch vorgetragenen Gedicht fort, das als Anhang den jeweiligen Romanteil beschließt. Obwohl die Sprache sehr ungewohnt klingt, ist ihre Rezitation ein Genuß, da die Stimmungen in den Gedichten durch die lautmalerischen Verbindungen ebenso wie durch die äußerst einfühlsame Intonation der Autorin nachzuspüren sind. Den Begriff „magischer Surrealismus“ verstand ich bald als die unaufhörliche Anbindung der Protagonistin des Romans an mythologische und märchenhafte Vorbilder, an denen sie sich auf eine grotesk anmutende Weise orientiert, um einen Halt in der sie umgebenden realen widerspruchsvollen und, wie es scheint, kalten Welt zu finden.

Der Abend wird durch Fragen des Publikums abgerundet, die auf den Schaffensprozeß, die Arbeitsweise der Autorin und auf ihre Erfahrungen auf der Frankfurter Buchmesse abzielen. Alle Fragen, die von Frau Galvosaite übersetzt werden, beantwortet Renata Serelyte mit demselben schüchternen Selbstbewußtsein, mit dem sie zu Anfang aufgetreten war. Ihre literarischen Vorbilder seien neben vielen anderen die Franzosen, darunter insbesondere Flaubert und Montpassant. Ihren Roman sehe sie dennoch nicht in der Tradition einer bestimmten Strömung, sondern als ein Konglomerat der verschiedensten Epochen und Schreibweisen. Hätte sie jedoch gewußt, daß ihr Roman auf solch eine Resonanz außerhalb Litauens stoßen würde, wäre er wahrscheinlich gar nicht zustande gekommen, weil sie keine adäquaten Fragestellungen gefunden hätte, die ein europäisches Lesepublikum hätte fesseln können. Den Erfolg führe sie auf die Tatsache hin, daß ihr Roman allgemeinmenschliche Probleme darstellt. Dennoch sei der Roman nicht zu ihrem bevorzugten Genre avanciert, da er sehr viel Arbeiten und Feilen erfordere. Deshalb möge sie Novellen lieber, obwohl sie auch sehr gerne Gedichte schreibe.

Am stärksten reagiert das Publikum jedoch auf ihre etwas intimere Aussage, sie schreibe hell und farbig, wenn sie die Küche als Arbeitsplatz wähle, indes düstere Erzählungen mit geschlossenem Charakter entstünden, wenn sie in ihrem unbeheizbaren, dunklen Sommerarbeitszimmer arbeite. Diese Enthüllung läßt die Offenheit von Renata Serelyte erkennen, die jedoch trotz der sehr guten übersetzenden Leistung von Frau Galvosaite nicht zur Geltung kommt, da das Sprachproblem ein ungezwungenes Gespräch zwischen ihr und dem Publikum behindert. Anstatt dessen orientieren sich die Zuhörer zunehmend an der Übersetzerin und beginnen, ihr sprachliches Können zu loben und zu fragen, wo sie so gut Deutsch gelernt habe, wie sie vom Verlag als Übersetzerin ausgewählt wurde, wie man überhaupt so einen Roman übersetze und ob Frau Serelyte mit ihr einverstanden gewesen sei. Diese Entwicklung hätte bei einer bekannteren Autorin bestimmt eine peinliche Situation dargestellt. Doch nachdem Akvile Galvosaite mit Verwunderung, rührender Freude und Bescheidenheit reagiert, fügt Renata Serelyte hinzu, daß sie keine Einflußnahme auf die Wahl der Übersetzerin gehabt habe. In Zukunft allerdings würde sie ihre Werke nur noch von Frau Galvosaite in die deutsche Sprache übertragen lassen.

Diese Anmerkung zeigt nicht nur, daß sich Autorin und Übersetzerin gut verstehen, sondern kann auch als Abschlußwort einer gelungenen Lesung gelten, die auf den Roman der jungen und – vielleicht noch – unbekannten Renata Serelyte neugierig macht.

Lesung: Renata Serelyte Sterne der Eiszeit
Moderation und Übersetzung: Akvile Galvosaite
15.10.2002 Haus des Buches

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