Ein Orgelkonzert mit Werken von Max Reger im Gewandhaus
Es ist kaum empfehlenswert, sich in ein Orgelkonzert wie das gestrige zu setzen, wenn man Max Regers Orgelwerke erst kennen lernen möchte. Diese Zusammenstellung von „Krachern“, von Regers technisch schwierigsten Werken, hätte dem Zuhörer zwar einen unglaublichen Orgelvirtuosen aus 100 Meter Distanz zeigen können, der während der letzten 20 Sekunden eines Werks in heroischer Manier sein Haar und seine Arme fliegen ließ (worauf natürlich auch der herzliche Applaus nicht ausblieb) – ein Reger-Neuling hätte aber wohl kaum Bezugspunkte zu diesen komplexen Werken gefunden. Ganz anders der begeisterte Reger-Hörer, der natürlich den akustischen Vorteil hier im Gewandhaus nutzt, um wirklich alles von der Feinharmonik und Brillanz mitzubekommen, die in einem 20-Sekunden-Nachhall-Dom eher verloren gegangen wären. Die Idee, einige von Regers nicht ganz so berühmten Choralfantasien in einem gemeinsamen Konzert zu präsentieren, spricht also eher „Regerfans“ oder Studierende an und ist als festlicher Einklang auf den morgigen Sonntag nur bedingt geeignet. Andererseits ist zu betonen, dass diese Zusammenstellung unter den angesprochenen Voraussetzungen dann auch besonders wertvoll ist.
Michael Schönheit betrat den Raum unter verhältnismäßig kläglichem Applaus, was man nur verstand, wenn man sich kurz umsah und die spärlich besetzten Reihen erblickte. Dann erklangen die ersten Töne der Introduktion und Passacaglia d-Moll, umwoben von den sagenhaften, pedaliter gespielten Melodien, schwollen in Kürze an und verklangen fast genauso schnell, wie sie gekommen waren. Das Passacaglia-Thema erklang in ruhigem und warmem Stil und sollte sich im weiterem Verlauf steigernd aufbauen. Der Registrant hatte, neben dem Umblättern der Noten, dank der Programmierung des Fußschwellers nicht viel zu tun. Schönheit arbeitete wirklich viel mit diesem Gerät, was ja auch absolut korrekt ist. Phrase für Phrase gingen die Schwelltüren beim crescendo auf, beim decrescendo wieder zu. Bestimmte Register wurden automatisch dazugenommen und dann wieder abgeschaltet. Auch der unterschiedliche Einsatz dieser Einrichtung gab dem ganzen den richtigen Pep: So gesellten sich am Schluss zu all dem Tosen noch die spanischen Trompeten für das Maximum dazu, während in ruhigen und trotzdem auf- und abbauenden Teilen, eher etwas bei den Labialpfeifenregistern (insbesondere der Flöten) passierte. Man spürte die Freude, an einer solchen Orgel spielen zu können. Gewaltig! Toll!
Um bei aller Begeisterung aber einmal ganz dezent ein Problem anzusprechen: Bei einem solchen Programm aus Highlights droht Stagnation, wenn Höhepunkt für Höhepunkt sich aneinanderreiht, und man in jedem Werk eine Stelle hat, die kaum noch zu toppen ist. Trotz dieser Gefahr bot Schönheit überzeugende interpretatorische Auseinandersetzungen.
Regers gegensätzliche Choralfantasien „Straf mich nicht…“ und „Freu dich sehr…“ erklangen in den schon erwähnten Auf- und Abbaustrukturen. Wenn sich dann plötzlich die ruhigen und verhaltenen leisen Abschnitte einstimmten, begannen sich die Ohren im Publikum zu spitzen, wurden gefordert, einen Überblick über die Kontraste zu gewinnen.
Gleich in der Passacaglia fiel der ruhige, zarte Ton auf, nach dem man im Raum regelrecht suchen musste. Andererseits ließ sich – auch im späteren Verlauf – feststellen, dass hier noch Reserven zum intensiveren Ausbau der sehr klar wiedergegeben Legatosätze vorhanden gewesen wären. Dieses so leise beginnende schöne Orgelspiel hätte Schönheit nicht derart ruckweise in den nächsten „plärrenden“ Einheiten sterben lassen, sondern an den Stellen, wo es am wenigsten auffällt, vielleicht die Schwellrolle bedienen sollen. Selten kam es auch vor, dass die Schwelltüren zu früh aufgingen; so ganz konnte man die Registrierung jedenfalls nicht immer nachempfinden. Aber dieses Thema ist wohl auch Ansichtssache.
Das Publikum hielt wacker stand, sowohl der distanzierten Gegenüberstellung (Publikum: erste Reihe – 100m und lauter leere Sitzplätze – Orgel) wie dem ungewohnten Klang. Die Atmosphäre schufen letztendlich der Künstler und die „moderne“ Akustik. Großer Beifall und einige Bravo-Rufe beendeten einen sehr schönen Abend, der zwar kein Ereignis der Spitzenklasse, aber ein interessantes und wertvolles Erlebnis war…
Orgelkonzert mit Werken von Max Reger
Zyklus Die deutsche Orgelmusik nach 1750 (II/2)
Introduktion und Passacaglia d-Moll
Fantasie über den Choral „Straf mich nicht in deinem Zorn“ op. 40 Nr.2
Fantasie über den Choral „Freu dich sehr, o meine Seele“ op. 30
Fantasie über den Choral „Halleluja! Gott zu loben“ op. 52 Nr.3
Fantasie und Fuge d-Moll op. 135b
Michael Schönheit, Orgel
19. Oktober 2002, Gewandhaus, Großer Saal
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