Ein Konzert zum Jubiläum der Völkerschlacht mit dem Völkerschlachtdenkmalchor
Sonntagvormittag. Draußen scheint die Sonne, es ist ein wenig windig, der Himmel ist fast ausnahmslos blau, kaltblau – es sind gerade sechs Grad über dem Gefrierpunkt. Und doch wimmelt es außerhalb eines Gebäudes, die Menschenmenge wird immer größer; sie tragen dicke Mäntel, Sonnenbrillen, Ferngläser, Handschuhe… Wo sie nur hin wollen?
Sonntagvormittag. Ein junger Mann bereitet sich auf ein Konzert vor, fragt sich, wo das schwarze Chorhemd geblieben ist, ob im Wäschekorb oder schon gewaschen und ob es dann wohl noch naß ist? Und wo die grüne Fliege? Und die Noten?? Und den Salbeitee, denn ohne diesen wird er schwerlich zweieinhalb Stunden in diesem Eiskoloß überstehen!
Sonntagvormittag. Sie scharren mit den Schuhen auf dem eiskalten, glänzenden Boden. Sie stehen dicht an dicht, damit vielleicht ein Funke Wärme überspringen könnte. Sie warten geduldig, sind extra hierher gekommen, an diesem denkwürdigen Sonntag. Glaubt man. Der eine steht da, wartet, daß es los geht. Der andere hofft, es möge immer friedlich bleiben, so etwas muß Leipzig nicht noch einmal erleben. Ein Dritter wagt den entscheidenden Schritt nach vorn, um über die Brüstung zu sehen…
Der junge Mann im schwarzen Hemd steht im Denkmal und lauscht gespannt. Zwölf Minuten soll das Orgelstück gehen. Eine lange Zeit, wenn man hier steht, aufgeregt ist und wartet. Aber die Vermutung, es würde ein tiefdüsteres Stück, bestätigt sich nicht. Es hat wenig mit der Darstellung eines musikalischen Kriegsschauplatzes zu tun. Die Töne, so wuchtig sie zum Teil in die Krypta geworfen werden, zerschwingen hoch oben in der Luft, fliegen der Sonne zu, die durch das riesige Fenster hereinstrahlt. Ehrfurcht schafft sich Raum. Und die gedrückte Stimmung zerfällt. Erwartung. Staunen ob der vielen überlieferten und nun wieder ausgegrabenen Gewänder, die da im Denkmal leuchten. Blanke Säbel, geputzte Knöpfe, gebügelte Paletots. Ob das damals auch so war?
Die grüne Fliege noch einmal geradezupfen. Nicht so verkrampft aussehen! Es ist aber kalt. Und der Anlaß… Völkerschlacht bei Leipzig. Fast zweihundert Jahre her… Der letzte Ton des Orgelstücks! Also: Auf, ihr Chorkameraden! Oder?
„Ubi caritas et amor deus ibi est“ – Dort, wo Hochachtung und Liebe ist, da ist Gott. Im Völkerschlachtdenkmal wird es fast feierlich. Der Nachhall des Denkmals bewirkt beinahe eine Stimmung wie in einer Kirche, in der Gott angerufen wird, vertraut wird, er sei da, wenn hunderte geehrt werden, die ihr Leben ließen. Ein mehrstimmiger Satz, erstaunlich wie überzeugend, obwohl doch die Größe des Chores im Vergleich zum letzten Jahr deutlich abgenommen hat. Und doch klare Klänge, ein zweigeteilter Tenor, über dessen Präsenz man verwundert sein darf, war dies doch nicht immer so. Angenehme Harmonien, Lateinisch, was jedoch kaum jemand verstehen kann, stehen die Sänger doch in der Krypta, die Zuschauer leider in der Ruhmeshalle. Ruhm…
Ruhm erlangt doch nur der, der gesiegt hat, über einen anderen siegt. Aber wer sind die Gewinner einer Schlacht? Und wer die Verlierer? Egal, ob ein Krieg im 19. Jahrhundert ausgetragen wurde oder man sich heute mit Waffen gegenübersteht – immer lassen Menschen dabei ihr Leben, verlieren Kinder ihre Eltern, ihr Zuhause, ein Stück ihrer Zukunft, ihrer Leichtigkeit. Wer einmal den Tod gesehen hat, der wird dieses Bild in sich tragen, wird es nicht vergessen können, wird sich der Endlichkeit bewußt.
Ein harter Bruch: Kriegslieder. Einfach gesetzte Melodeien, ein Text, in dem man das simple Säbelrasseln zu hören glaubt, untermalt von der Orgel ? aber war es denn wirklich so einfach? Kranzniederlegung. Nicht nur einer, nein, vier, fünf… Trompetensignal. Noch mehr Blumen. Abgehakter Gang, selbst der Mädchen, die da Tote ehren sollen, indem sie Gestecke niederlegen. Minutenlang.
Durch die ermüdende, alljährlich wiederkehrende Zeremonie formt sich ein Klang von dumpfem Gedröhn. Die Orgel rollt voran, die Stunde der Wahrheit scheint gekommen, da windet sich zart ein Ton durch die Höhen des Denkmals – das Ave Maria, schlank und doch voll. Neben der Hoffnung findet auch ein Stück Ruhe seinen Raum im Herzen. Nur allein diese Stimme läßt wieder aufleben.
Noch ein Kriegslied, nicht der Rede wert; ein weiteres, das Opferlied von Beethoven, immer noch ungestüm, aber schon mit der Gewißheit, alles wird gut gehen. Die Messe Basse von Fauré – aus dem Kriegsgesang wird ein Konzert. Notre P?re als Abschluß bringt den Frieden mit sich.
Der Chor des Völkerschlachtdenkmals verläßt die Krypta, läuft vorbei an den Damen und Herren in den bunten Gewändern, welche der Zeit der Völkerschlacht nachempfunden wurden. Für die Choristen ist ein Konzert zu Ende, klingt das Letztgesungene noch im Ohr, die Stimmung des „Vater unser“; der Leib ist noch voller Musik.
Ein „Hochgenuß“ sei das Konzert gewesen, meint einer der Zuhörer, ein anderer geht in nachdenklicher Stimmung. Der junge Mann, der inzwischen sein schwarzes Hemd und die grüne Fliege abgelegt hat, geht hinaus in die klare Luft des sonnigen Tages – draußen erwarten ihn nachgestelltes Kriegsgetümmel, Salutschüsse und militärische Befehle gellen. Gilt ein Frieden denn nicht mehr als das Jubiläum einer Schlacht?
Nachstellung der Völkerschlacht durch die Mitglieder des Verbandes „Jahrfeier Völkerschlacht bei Leipzig 1813 e.V.“ und Konzert des Völkerschlachtdenkmalchores
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