Eröffnung der 12. Euro-Scene mit „METAPOLIS Projekt 972” (Beatrice Wolf)

Oper Leipzig
12.11.2002

Eröffnungsveranstaltung der 12. Euro-Scene mit dem Titel ? Wurzeln & Visionen?

Compagnie Charleroi/Danses ? Plan K, Charleroi
?METAPOLIS Projekt 972?


Beängstigende Zukunftsvisionen

Das große Haus am Leipziger Augustusplatz durfte heute Aufführungsort der Inszenierung ?Metapolis? von Frédéric Flamand und damit der Eröffnungs der 12. Euro-Scene sein. Schon im Vorfeld dieses Abends breitete sich eine wahrnehmbare Aufregung innerhalb der Leipziger Euro-Scene-Fangemeinde aus. Das diesjährige Programmheft sowie diverse Pressemitteilungen ließen vermuten, daß ein außergewöhnliches Theatererlebnis mit Weltniveau in Leipzig bevorstand. Die Tatsache, daß eine der spektakulärsten Architektinnen unserer Zeit, Zaha Hadid, maßgeblich an der Entstehung dieses interdisziplinären Werkes beteiligt war, sie selbst an diesem Abend zugegen sein würde und unsere Stadt in allernächster Zukunft bekanntermaßen mehr mit ihr zu tun haben wird, sorgte zusätzlich für ein außergewöhnliches Publikumsgemisch. Bekannte Gesichter aus Industrie, Politik, Theater und Tanz sowie viele Architekten und bildende Künstler waren angereist, um zu erleben, was auf internationalen Festivals gelobt, diskutiert und gefeiert wurde: ein genreübergreifendes Stück Modern Dance in einem noch nie dagewesenen Bühnenraum unter Nutzung neuester visueller Techniken.

Schon während sich hunderte von Besuchern im leicht abgedunkelten Saal zu ihren Plätzen begaben, war der Blick in den Bühnenraum freigegeben und lud sofort zur Betrachtung der drei futuristischen, metallenen Objekte ein, die am rechten Bühnenrand übereinander schwebend angeordnet waren. Links von ihnen lagen zwei große schwarze Stoffstücke mit gemeinsamem Scheitelpunkt auf weißem Tanzteppich, keineswegs die Schatten der dreifachen Brückenkonstruktion. Diese Dreifaltigkeit in Metall weckte sofort meine Aufmerksamkeit. Das waren eindeutig Brücken-Bögen, jedoch innerhalb ihrer Form gebrochen. Aneinandergefügte, unterschiedlich ausgerichtete Teilstrecken bildeten eine seltsam harmonische und asymmetrische Einheit und die wiederum stellte zu keinem Zeitpunkt der Betrachtung das Gesamtbild dreier Bögen in Frage. ?Ausstattung Zaha Hadid.?

Der abgedunkelte Saal war das Zeichen für das sofortige Erscheinen von zehn TänzerInnen. In zwei Gruppen betraten sie den Raum – aufgefädelter Einmarsch auf zwei Diagonalen. Die Stoffbahnen wurden aufgehoben und bildeten in der Vertikalen die ersten Projektionsflächen dieses Abends. Die zehn Tänzer bewegten, nun nicht mehr sichtbar, den transparenten Stoff dezent zu einem elektronischen Pulsen. Lichtschlitze verzogen und verzerrten sich in den bewegten schwarzen Stoffnebeln, während sie unmerklich in fixierte Anordnungen im Bühnenhintergrund übergingen. Ich erinnerte mich an einen nächtlichen Blick aus dem Flugzeugfenster über Detroit. In der Anordnung der exakt in die Nacht gezirkelten Lichterplanquadrate gab es auch dieses winzige Vibrieren, den von Ferne sichtbaren Puls einer Großstadt.

Nachdem die Schwarznebelschwaden die Bühne verlassen hatten, erschienen zwei Tänzer im Raum und einzig durch einen Lichtwechsel entstand ein neuer Raum, in dem die zwei Akteure in präzise artikulierter Modern Dance Technik monologisierten. Die drei Bögen erschienen durch den scharfen Einfallswinkel kaltblauen Lichtes völlig verändert und die Seitenkanten wie übereinandergeschichtete unregelmäßige Streifen.

Erneuter Lichtwechsel: wechselnde Tänzerpaare in kurzen Interaktionen, kurzatmige Begegnungen ohne Folgen oder Entwicklungen, flüchtige Momente und Nervosität erfüllten die Szenerie in einem übergroßen Lichtfenster. Schattenspiele, wie wir sie nur in prächtigen Sonnenuntergängen oder bei nächtlichen Spaziergängen unter ?den Lichtern der Großstadt? wahrnehmen.

Projektion: Ein einzelner Tänzer in auffälliger Kleidung, halbe Hose, halbes Jackett, balancierte über die oberste Brücke. Fast manieriert wirkten die exakt gesetzten Füße, die großformatig auf die Rückwand der Bühne projiziert wurden. Kein Rückschluß darüber, von wo der Mann kam und wohin er ging – welches ?A? diese Brücke mit einem ?B? verband.

In einem anderen Moment erschien ein Paar auf der Brücke, umschmeichelte einander mit zaghaften Bewegungen, bewegte sich zärtlich, behutsam barfuß auf der metallenen Oberfläche und über ihre Bruchstellen, um am Bogenende herunter zu gleiten und im erneuten Lichtwechsel gestenlos und zügig in unterschiedliche Richtungen davonzueilen.

Eine Vielzahl von zum Teil atemberaubenden visuellen Spielereien reihte sich nun aneinander, in denen Tänzerkörper zu Übertragungsflächen großformatiger Stadtansichten wurden, Kostümteile zu Projektionsflächen, die Oberflächen der Brücken zu verwinkelten Leinwänden mit Löchern, in denen ?ein Einzelner? scheinbar unterging in einem Meer aus urbanen Strukturen und Betonquadern. Halbnackte Tänzergruppen betraten die Bühne mit schrillgrünen, geschlitzten Stoffteilen in den Händen, auf deren arrangierter Gesamtfläche rasante Fahrten aus Autofahrerperspektive sichtbar wurden, ein unregelmäßig geschnittenes Oberteil einer Tänzerin wurde zur spektakulären Abendgarderobe in Form von pulsierenden Neonlichtreklamen im Disco-Stil. Augenarbeit für jene, denen die kurzatmige Bildsprache einschlägiger Musikkanäle im Fernsehprogramm des dritten Jahrtausends nicht vertraut ist.

Seltsame Befremdung bei mir, fiel mir doch spätestens im letzten Drittel des Abends auf, daß ich die Menschen auf der Bühne, den Tanz gar, völlig aus den Augen verloren hatte und mich ob dessen vergleichsweise wenig berührender Aussagen und scheinbarer Alibifunktion von all den bunten, rasanten, verformten und interessanten Bildern mitreißen ließ. Allerneueste Kamera-, Computer- und Lichttechnik auf der einen Seite standen Bewegungen gegenüber, die innerhalb der modernen Tanzsprache längst schon als klassisch zu bezeichnen sind. Permanentes ?An-einander-Vorbei?, monotone Artikulation von gesichtslosen Individuen, seltsame Sinnentleertheit ihres Aufenthaltes in dieser Bühnenstadt, das Fehlen der privaten Ebene, die Begegnung mit exzentrischen Einzelnen, die sich als Phänomen aller Großstädte überall dort zeigen, wo eine scheinbar gleichgeschaltete Masse durch die urbanen Kanäle zu gleiten scheint; sollte das schon die Zukunft sein? Sollte die Verschmelzung unserer Existenzen und unserer Körperräume mit einem allgemeinen virtuellen Raum die futuristische Vision ausmachen?

Passend hierzu erschien in diesem Moment eine Tänzerin, die einen nun im Bühnenhintergrund positionierten Brückenbogen erklomm und dort ein Stück Stoff bewegte. Die Folge elektronischer Musiken wurde durch orchestrale Klänge unterbrochen und diesmal waren da menschliche Gesichter, eine zerstörte Stadt erschien vage pulsierend auf dem Stoffstück, Erdfarben, regennasser Boden in Ruinen, Kinderaugen, ein Frauenkörper bei schwerer Aufbauarbeit, Flüchtlingslager irgendwo auf dem afrikanischen Kontinent – also doch jetzt!, nicht in irgendeiner Zukunft dieses ?Metapolis?, dessen Bühnenfiguren sich in uniformen Kostümen(individuell lediglich die Anordnung geometrischer Formen in grau und schwarz) mit nichts in Erinnerung bringen können, außer durch ein befremdliches Gefühl von Andersartigkeit.

Finale und Schlußbild war eine überdimensionale Reise in eine architektonische Vision. Vor den Augen der Zuschauer entwickelte sich aus einem Brückenmodell eine faszinierende und nie gesehene Zukunftsstadt, die in ihrer Andersartigkeit und ganzheitlich in sich geschlossenen Konstruktion fast organisch wirkte. Im ersten und zweiten Moment ein virtueller Ort, den ich begehen und erleben wollte.

Nach Minuten tauchten zwischen kurvigen Wänden, geschichteten Ebenen und Überlagerten Verbindungskonstrukten zwei stilisierte menschliche Schatten auf – sitzend in Gesprächshaltung. Später zwei weitere: Momentaufnahme im Gehen. Ich entdeckte ein winziges Täschchen in der Hand einer Schattenfrau und plötzlich erschien mir diese so interessante Zeitreise einen Riß zurück zu mir zu haben und ich fragte mich, wo denn mein Platz in einer solchen Vision sei. Der vorsichtige Blick in den Theaterraum mit all den Menschen in Echtzeit neben mir half mir ernsthaft aufkommende Ängste zu regulieren und dann war ?es? auch schon vorbei.

Neunzig Minuten großflächige Inszenierung in Bild und Klang waren vergangen. Neunzig Minuten Tanztechnik der Spitzenklasse – ohne einen einzigen Einblick in die Befindlichkeiten dieser vielen Figuren. Neunzig Minuten Begegnung mit dem gelungenen Versuch, Tanz mit anderen Kunstformen verschmelzen zulassen, wenngleich diese Schmelze eindeutig zu Gunsten der bildhaften Künste verlief. Das Publikum erkannte nach kurzer Irritation das Ende des Stückes und reagierte dankbar bis erregt auf das Gesehene, einzelne Buh-Rufe, die bekanntlich immer zu Aufführungen hoher Qualität gehören, gingen im sehr wohlwollenden Applaus letztendlich unter.

Anzumerken ist an dieser Stelle noch, daß der Hauschoreograph der Leipziger Oper, Herr Uwe Scholz, innerhalb der folgenden Verbeugungen des Ensembles auf der Bühne erschien und eine einzelne Kerze auf dem Bühnenboden platzierte. Die zurückkehrenden Tänzer wunderten sich kurz (wie sicher auch das Publikum) und nahmen die wächserne Geste kurzerhand mit .

(Beatrice Wolf)

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