TAGWERK – WERKSTATT – TANZ, Der Leipziger Tanz erwacht bei der euro-scene (Beatrice Wolf)

Schaubühne Lindenfels
13.11.2002

TAGWERK ? WERKSTATT – TANZ
Innerhalb der 12. euro-scene Leipzig 2002


Das Erwachen der Leipziger Tanzszene

? Tagwerk? ist der Versuch der beiden Koproduzenten euro-szene Leipzig und Schaubühne Lindenfels, in der Nachfolge der ?Tanzplattform Deutschland 2002? dem Potential der Leipziger Tanzszene nachzuspüren und gleichzeitig Impulse für die Arbeit der Choreographen und Tänzer der Stadt zu geben. ? Wurzeln & Visionen? des Tanzes in Leipzig…

Mit diesem Satz im Kopf ging ich gestern, wie schon so viele Male vorher, eher aus Verpflichtung den Leipziger Unbeugsamen der freien Tanzszene gegenüber als mit Enthusiasmus, zu einem ?Tanz in Leipzig?-Abend in die Schaubühne Lindenfels. Bekannt war mir, daß es eine Ausschreibung für eine Art ?betreutes? Arbeiten gegeben hatte. Einige Namen kursierten zeitweise innerhalb der kleinen Tanzgemeinde unserer Stadt und später kehrte Ruhe ein. Die jedoch war heute Abend abwesend hinter den Schwingtüren der Schaubühne. Das ?Nora Roman?, als gastronomisches Foyer meines Lieblingstheaters, glich einer völlig überfüllten Bahnhofshalle. Der Lautstärkepegel war enorm, die Menschenmenge auf dem kollektiven Vormarsch zum Kassentisch nicht zur Ruhe zu bringen. Es schien, als ob weder die Anwesenden mit Karten, noch diejenigen ohne die begehrten Papierscheine jemals zu ihren Plätzen gelangen könnten. Stau! Andrang! Maximales Interesse! Dies sollte nur der Anfang einer Reihe weiter folgender Überraschungen sein.

Reihe eins – Mitte rechts:
Von hier aus erlebte ich einen Abend voller Bewegung – auf der Bühne und in mir. Hier durfte ich Zeuge einer völlig neuen Qualität von Äußerungen Leipziger Choreographen und Tänzer werden. Hier wurde der Beweis erbracht, daß unter professionellen Rahmenbedingungen ernsthafte und sehenswerte Arbeiten entstehen können, endlich bar jedem noch so kleinen Anflug von Dilettantismus oder Provinzialität. Es war ein lang ersehnter Moment und höchst wahrscheinlich der Beginn einer neuen Ära des Tanzes, nämlich des Modernen, für unsere Stadt. Ich hoffe, daß unter den vielen Gästen auch Kulturverantwortliche der Stadt und des Landes waren, die die Qualität der nur als Fragmente angekündigten Stücke erfahren haben und bei zukünftigen Debatten um die Vergabe der ohnehin knappen Budgets neu über die freie Tanzszene Leipzigs nachdenken werden.

Die Choreographen und Darsteller dieses Abends stehen in unterschiedlicher Beziehung zu ihrer Stadt. Da gibt es Zugereiste und Wahlleipziger, Eingeladene und Alteingesessene, Rückkehrer und Hiergebliebene. Auch die Inhalte der vier Arbeiten sowie die bewegungssprachlichen Mittel mit denen gearbeitet wurde, unterschieden sich grundlegend voneinander. Das läßt Hoffnung auf eine vielschichtige Weiterentwicklung der verschiedenen Leipziger Tanzprojekte aufkommen. Zwei der Stücke sollen nach dieser Werkschau weiter unterstützt und zu abendfüllenden Choreographien ausgearbeitet werden.

Lara Kugelmann, u.a. 1996 bis 1999 Tänzerin des Schauspiel Leipzigs bei Irina Pauls, eröffnete den Abend mit ihrem Stückentwurf zu ?SEE YOU?. Mentorin hierzu war Dovrat Meron aus Berlin und Co-Mentorin: Anka Baier aus Leipzig. In ?SEE YOU? eröffnete Lara Kugelmann einen einzigartigen und sehr undramatischen Einblick in einen im Grunde allgegenwärtigen, dabei leicht zu übersehenden Aspekt städtischen Alltags: Die stille Anwesenheit blinder Mitmenschen in unserem zielorientierten und hektischen Miteinander. In den jedem Stückentwurf zur Verfügung stehenden zwanzig Minuten gelang es Lara Kugelmann und ihrer bemerkenswerten Darstellergruppe, meine Aufmerksamkeit jenseits von Mitleid oder voyeuristischen Gefühlen zu fesseln. Diese Art von Bewegung bewegte mich. Die Vielzahl sensibel erarbeiteter oder zufällig stattfindender Berührungen vermochte auch mich zu berühren. Das Geschehen im ?Sicherheitsraum? Bühne – hier eine Art überdimensionierter Boxring, löste sogar herzliche Freude aus, denn sowohl sehende als auch blinde Akteure schienen bei dieser außergewöhnlichen Arbeit eine förmlich greifbare private Ebene des einander Vertrauens erreicht zu haben, die als eine Art kollektive Empfindung zu spüren war. Obwohl zu diesem Zeitpunkt als Materialschau bezeichnet, hatte die Arbeit bereits erkennbare theatergeeignete Strukturen. Ich hoffe sehr, daß dieses Stück eines der zwei Auserwählten sein wird, das zu einem späteren Zeitpunkt all die schon erkennbaren Möglichkeiten gemeinsamer Bewegung in einem größeren Rahmen zusammenführen wird.

?SOSHAMMA?

Choreographie : Heike Henning, Leipzig
Mentorin: Chat, Berlin

Inspiriert durch Arundhati Roy´s Buch ?Der Gott der kleinen Dinge? entstand eine sensible Miniatur sparsamer Bewegungen und Gesten, Annäherungen und lesbarer Befindlichkeiten dreier Darsteller, unter ihnen die Tänzerchoreographin selbst und die für diese Produktion zurückgekehrte Leipziger Tänzerin Friederike Plaffki. Letztere war an diesem Abend meine ganz persönliche Überraschung. Seit unserer letzten tänzerischen Begegnung beim Besten Tanzsolo Anfang dieses Jahres scheint eine unbegreifliche Entwicklung mit der jungen Frau vor sich gegangen zu sein. An diesem Abend erschien sie als eine wunderbar präsente, gereifte Darstellerin auf der Bühne, deren Bewegungen meine gesamte Aufmerksamkeit durch ihre gelassene Ruhe und Präzision, ihr völliges Selbstverständnis und professionelle Technik auf sich zogen. Durch diese Erscheinung ergab sich für mich allerdings ein seltsames Mißverhältnis zwischen ihr und den beiden anderen Darstellern, die im Vergleich zu Friederike Plaffki eher privat und verhalten wirkten.

?DAY TO DAY DREAM?

Choreographie: Takashi Iwaoka, Amsterdam
Mentor: Martin Nachbar, Berlin

Der gebürtigen Japaner Takashi Iwaoka ist einigen Leipzigern in den vergangen Jahren bei verschiedenen Tanzevents begegnet. Zunächst als zügelloser Solist beim Deutschen Tanzsolo Wettbewerb, später mit seiner euro-scene Produktion ? FCP ? training method for (anti) social behavior? im LOFFT und nun also unter den Auserwählten in der Schaubühne Lindenfels. Irgend etwas scheint das junge Multitalent mit unserer Stadt zu verbinden oder unsere Stadt mit ihm…

Im leeren Bühnenraum artikulierte sich sein Körper zunächst scheinbar ungeplant in alle möglichen Raumrichtungen, auf allen erreichbaren Höhenniveaus, in unterschiedlichsten Dynamiken. Das Gesicht zunächst völlig teilnahmslos zu dem Gros an verwirrenden Minibewegungen, später grotesk verzerrte Lippen, die Augen wie im Butho Tanz verdreht.

In sein Solo hinein trugen ein Mann und eine Frau Mikrofon und Tisch auf die Fläche, eine andere Darstellerin legte eine große Stoffbahn zu einem Bündel zusammen, das sie als stilisiertes Baby in ihren Armen wiegte. Zum Tisch wurde ein Bürostuhl gefahren, ein Laptop aufgeklappt und die junge Frau begann augenblicklich mit leisen Tippgeräuschen Texte zu verfassen. Im Bühnenvordergrund sprach der Mann mit sehr angenehmer Stimme einen spanischen Text über sein Verhältnis zum Tango in das Mikrophon. Während die Baby-Tragende im Profil zum Publikum eine minutiöse Beschreibung von Zoobesuchen mit ihrem Sohn in den Raum wisperte, begann der Tango-Man einen kurzen Bewegungsmonolog im Bühnenhintergrund. Die Computer-Frau rollte auf ihrem Stuhl rückwärts von der Bühne, betätigte eine Espressomaschine, kehrte mit der gefüllten Tasse zum Schreibtisch zurück und nahm nach einem genüßlichen Schluck Kaffee ihre Schreibarbeit wieder auf.

Währenddessen stand der Choreograph und Darsteller Iwaoka ruhig im Bühnenhintergrund und betrachtete als Außenstehender die Szenerie. Die Bewegungen verebbten, die Sprache wurde lautlos, das Licht verlosch und einzig die leisen Töne der Laptop-Tasten und das kalte Licht des Bildschirms auf dem Torso der Schreibenden füllten den Raum. ?Werkschau?-? Fragmente?-?work in progress?, erinnerte ich mich sofort selbst, denn als Stück war dieser Einblick kaum zu betrachten. Es ist sicherlich anzumerken, daß das Leipziger Publikum mit dem Modernen Tanz nur minimale Berührungen hat und mit dem daraus erwachsenen Genre der Performance wenige bis gar keine. Der junge Künstler dagegen lebt und arbeitet in einer der fortschrittlichsten Tanzstädte der Welt, Amsterdam. Dort geht seit Jahren der Trend zu freier, manchmal fast unleserlicher Tanzsprache. Suggestive und chaotische Reflexionen unserer Zeit im Tempo neuzeitlicher Medien, emotionslose Blicke auf Alltagsgeschehen, städtische Isolation oder Gewalt bestimmen die Themen. Die Performance hat sich als eigene Kunstform schon in den Siebzigern vom durch choreographierten oder inszenierten Theater gelöst und damit in einigen Metropolen der Welt mittlerweile eine eigene Tradition und Zuschauergruppe für sich gewonnen.

?LABORATOIR ?TOILE?

Choreographie: Martina Labonté, Leipzig
Mentor: Jan Pusch, Hamburg

Die Wahl-Leipzigerin hat der beachtlichen Reihe internationaler Werke der vergangenen Jahre hier den Ansatz für ein weiteres Stück hinzugefügt. Ihre Darsteller, zwei Männer und zwei Frauen (u.a. Karen Schönemann aus Leipzig) erschienen in Gruppen, als Paar, zum Block formiert oder in Reihen auf der Bühne. Präzise wurde modernes Bewegungsvokabular im Raum konstruiert, die Möglichkeit der Begegnung mit dem jeweiligen Gegenüber dagegen fast außen vor gelassen. Vier Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern zitierten allgemeine Tanz-Sprache ohne berührenden Inhalt. Drei Sequenzen traten aus den Allgemeinplätzen kurz hervor: Die bis zur Erschöpfung einen Bewegungsablauf immer schneller wiederholende Tänzerin, der einzelne Mann im Hemd, der mit unsicheren Bewegungen auf die ? JA!? und ?NEIN!? skandierenden abgewandten Mitstreiter reagierte und der Tänzer, der einen komplexen Bewegungsablauf wiederholend, diesen parallel inhaltlich verbal erläuterte.

?Saubere Arbeit, in unzähligen Variationen schon gesehen…? tuschelte ein Besucher gelangweilt seiner Begleitung zu. Recht hat er, dachte ich mir, aber NICHT HIER – Leipzig hat seine eigene Zeit und damit auch das Recht, alle Stufen der Entwicklung anderer traditionsreicher Tanzstädte ebenfalls zu durchlaufen. Wenngleich hier keine Innovation zu sehen oder eine ergreifende Thematik erkennbar gewesen war, hatte ich dennoch ein Gefühl von ?so, das können wir jetzt also auch?. Und weiter geht’s…

Alles in allem schien das Publikum ehrlich erfreut über den Abend. Eine echte Überraschung ist gelungen. Der Applaus war freudig und lang anhaltend. Die beachtliche Gruppe aller Akteure dieses Abends wirkten bei der gemeinsamen finalen Verbeugung sichtlich erleichtert und froh. Ich verließ das Theater mit dem Gefühl, daß hier eine Förder-Idee zu wichtigen und absolut sehenswerten Ansätzen geführt hatte und die mutigen Vertreter des traurigsten Stiefkindes der Leipziger Kulturlandschaft bewiesen haben, daß sie durchaus in der Lage sind, innerhalb der professionellen Theaterszene der Stadt einen eigenen Platz zu beanspruchen. Ich wünsche allen alten und neuen Tanzbegeisterten mehr Möglichkeiten, Leipziger Arbeiten auf professionellem Niveau zu erleben. Hierzu brauchen die Künstler lediglich dieselben Arbeitsbedingungen, wie ihre Kollegen an Oper, Schauspielhaus und Musikalischer Komödie… Wir werden sehen!

(Beatrice Wolf)

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