Wissen, um verstehen zu können

Ein Sammelband widmet sich der immer noch nötigen Forschung zum Holocaust

Die jüngsten Versuche deutscher Politiker (Möllemann, Däubler-Gmelin und Stölzl), ihre Wahlkampfbeiträge mit Vergleichen aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte zu untermauern, haben nicht nur zur Beendigung einer Ministerinnenkarriere und einer verlorenen Wahl geführt. Vor allem haben sie gezeigt, wie verfestigt bestimmte Geschichtsbilder sind, und wie dringend die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und dem Holocaust weiterhin ist. Immer noch und auch fast sechzig Jahre danach. The Holocaust and History kann dabei eine wichtige Hilfestellung sein. Erstmals 1998 veröffentlicht, liegt nun die Taschenbuchausgabe dieses umfangreichen Kompendiums vor. Auf fast 900 Seiten sind 55 Artikel namhafter Forscher versammelt, die einen Über- und Einblick in die Holocaust-Forschung geben.

Raul Hilberg, dessen Buch Die Vernichtung der europäischen Juden eine wichtige Weichenstellungen in der Holocaust-Forschung war, untersucht die Bedeutung und Verwendung der Quellen, den Erinnerungen der Zeitzeugen und schriftlichen Zeugnissen aus dieser Zeit, hängt von ihnen doch unser heutiges Wissen ab. Über allem steht die Frage, wie mit der Erinnerung umgegangen wird. Hilberg weist auf Informationen hin, die in Zeugenaussagen, Memoiren von Überlebenden liegen und auch auf Trugschlüsse. So wichtig die Berichte der Überlebenden für unser Verständnis auch sind, sie repräsentieren nur einen geringen Ausschnitt der jüdischen Gemeinden, die in Europa existierten. Ihre Zeugnisse wurden, sofern es überhaupt welche gab, häufig vernichtet. Eine Ausnahme bilden da die Familienfotografien von Ermordeten, die vor einigen Jahren in Auschwitz gefunden wurden. Neue Aufschlüsse werden die Archive in den ehemaligen Sowjetrepubliken, in Rumänien und die vielen Gemeindearchive geben können.

Yehuda Bauer beschreibt den Holocaust als ein Symbol des Bösen in der Geschichte der westlichen Zivilisation. Neben der Vernichtung von Millionen Menschen ist das Gefühl der Bedeutungslosigkeit des Todes, das die Nazis ihren Opfern gaben, so schwer zu fassen. Gleichzeitig ist es aber Ausgangspunkt für Bestrebungen, die Opfer zu Märtyrern zu machen. Eine Entmystifizierung des Holocausts dagegen fordert Michael Marrus, der behauptet, dass der Holocaust „historisiert worden ist“. Das bedeutet, die Geschichte des Holocausts ist in der Gegenwartsgeschichte angekommen. Marrus verlangt, die Opfer müssten als „normale Menschen“ gesehen werden und der Holocaust mit den akzeptierten historischen Methoden untersucht werden. Ein Umstand, dem die Überlebenden skeptisch gegenüber stehen dürften. Wie weit die „Normalisierung der Opfer“ gehen kann, hat man mit Norman Finkelsteins Buch The Holocaust-Industrie gesehen. Darin wirft Finkelstein jüdischen Organisationen vor, im Namen der Opfer Schadenersatzansprüche erhoben zu haben, ohne dass die Betroffenen davon etwas bekommen hätten.

Gerade hat der amerikanische Historiker Daniel Goldhagen sein zweites Buch Die katholische Kirche und der Holocaust veröffentlicht. Zwischen diesen und seinem Erstlingswerk gibt es nur eine Konstante: Die einhellige Kritik der Historikerzunft. Der Eindruck, den man schon bei Hitlers willige Vollstrecker haben konnte, das Buch sei mit seinen plakativen Aussagen eher für den amerikanischen Markt geschrieben worden, scheint sich nun noch zu verstärken. Vor diesem Hintergrund ist besonders das Kapitel „Ordinary Men. The Sociopolitical Background“ aufschlussreich. Autoren wie Christopher Browning (Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibatallion 101 und die Endlösung in Polen, Reinbek, 1996) rücken vieles von dem gerade, was durch Goldhagens Polemik in Schieflage geraten ist. So war, laut Browning, eine Mehrheit der Bevölkerung dafür, dass Juden nicht mehr in öffentlichen Positionen arbeiten sollen. Keine Mehrheit fand sich aber für die gewalttätigen Exzesse gegen die jüdische Bevölkerung, wie sie sich in der „Kristallnacht“ 1938 offenbarten. So gilt noch immer das Wort des englischen Historikers Ian Kershaw, der schrieb: „The road to Auschwitz was built by hatred, but paved with difference.“ Das dies jedoch keine Absolution sein darf, wird durch die Lektüre der anderen Kapitel dieses wichtigen Sammelbandes nur noch unterstrichen.

Michael Berenbaum, Abraham J. Peck (Hrsg.): The Holocaust and History: The Known, the Unknown, the Disputed, and the Reexamined
Indiana University Press, Bloomington, 2002
856 Seiten, ca. 35 Euro

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