Rekonstruktion eines vergangenen Frühlings

Philippe Herreweghes,Solistin Anna Korondi und das Gewandhausorchester geben Bach und Schumann im Grossen Concert

Die Orchestersuite Nr. 3 in D-Dur von Johann Sebastian Bach steht auf dem Programm. Der Dirigent ist Philippe Herreweghe. Ein verführerisch schönes Orchesterwerk vom großen Bach, ein außerordentlich interessanter Dirigent und, ja, ein erstklassiges Orchester. Was kommt also dabei heraus?? Eine verführerisch schöne Interpretation, wie auf Samt gebettet, gemächlich schreitend, schwebend. Glückseliger wäre es unter Mendelssohn selbst nicht gegangen. Glatt, ebenmäßig und zugleich zierlich und elegant. Ganz einem Schönheitsideal entsprechend, das wohl dem 19 Jahrhundert entspringt. Hören wir hier also eine romantische Bach-Interpretation? Eine Spielart des sogenannten „Leipziger Bachs“? Und das ausgerechnet unter der Leitung von Philippe Herreweghe? – Es scheint so zu sein. Recht betrachtet, handelt es sich bei dem Leipziger Bach ja um den originalen, den eigentlichen Bach, oder? Nur dass eben 250 vergangene Jahre dieses Leipziger Original ein wenig verwässert und verwischt haben, 150 Jahre Bach-Pflege die Sicht auf ihn getrübt haben. Ihn womöglich zu Tode gepflegt haben? Aber an so etwas wollen wir gar nicht denken.

An eine Art Rekonstruktion der Mendelssohn-Zeit mochte jedenfalls Philippe Herreweghe gedacht haben, als er diesmal nach Leipzig kam. Denn so wie er die Orchestersuite interpretiert, könnte es geklungen haben, als das Gewandhausorchester 1838 dieses Werk wiederaufgeführt hat. Ein Bach, so romantisch, so betörend schön, dass er eigentlich Strom heißen sollte. In ähnlicher Weise erklingt die Bach-Kantate „Mein Herze schwimmt im Blut“ mit der Solistin Anna Korondi. Überzeugende, in den melodischen Linien schwelgende sängerische Darbietung. Auch das Oboen-Solo in der Arie „Stumme Seufzer, stumme Klagen“ kommt ebenbürtig heraus, nur das Solo der Bratsche im Choral „Ich, dein betrübtes Kind“ scheint ein wenig neben der Spur. Der Solo-Bratscher wirkt beim Applaus verständlicherweise dann auch ein wenig betrübt.

Bei Schumann handelt es sich ebenfalls um einen Großen, den Leipzig sein Eigen zu nennen pflegt. Nicht umsonst entstammt das Gewandhaus-Pausen „klingeln“ seiner Frühlingssinfonie. Und wenn nun das Original im Konzert zu hören ist, so ist es wie eine flüchtige Erinnerung an vergangene Pinkelpausen oder kühlen, erfrischenden Sekt. Forderte das Pausenzeichen, wie eben noch, zur Einkehr in den Saal, so ist die Sinfonie eher eine Aufforderung zur inneren Einkehr in einen gleichsam inneren Frühling. Und der ist nicht unbedingt heiter, sondern bierernst. Keine Spur mehr von Sektlaune. Dieser Frühling klingt wie einer, den der Winter nicht so ganz loslassen will. Am Anfang liegt noch verkrusteter Schneematsch auf den Wegen und bis zum Ende scheint es immer mal wieder bedeckt zu sein und zu regnen. Nur selten ist es klar und aufgeheitert: das sind dann die schönen Momente, die es auch gibt. Insgesamt will das alles aber nicht so recht überzeugen. Die gestalterische Absicht des Dirigenten wird nicht klar. Fast möchte man meinen, er könne ruhig früher nach Hause gehen, das Orchester macht heute einfach, was es will.

Als Roger Norrington vor viereinhalb Jahren an gleicher Stelle stand und dasselbe Werk dirigierte, erklang es weitaus klarer und differenzierter und erschien als eine großartige Komposition. Unentdeckte Details kamen zum Vorschein und die vielen Kontraste viel leidenschaftlicher heraus. Unter Herreweghe klingt alles eher ein wenig uninspiriert und kraftlos, weder Fisch noch Fleisch sozusagen. Schumanns erste Sinfonie erscheint als eine gut gemeinte aber doch schulmäßige Orchesterkomposition in Sinfonieform mit einigen originellen Einfällen, doch insgesamt ein wenig unzusammenhängend und seltsam vernebelt. Vielleicht sagt diese Interpretation ja am Ende mehr über das Werk aus, als eine, die es aufwertet, indem es seine verborgenen Qualitäten in den Vordergrund rückt. Und vielleicht wurde man auch hier Zeuge eines originalen Leipziger Schumanns, eben einer Rekonstruktion der Uraufführung durch Mendelssohn. Mit einem Gewandhausorchester, das diese Komposition des zeitgenössischen musikalischen Sonderlings nicht eigentlich verstand.

Möglicherweise war also alles so beabsichtigt. Das Konzert eine überaus kunstvolle historische Rekonstruktion Leipziger Interpretationsgeschichte. Wahrscheinlicher aber ist, dass der berühmte Dirigent mit dem ebenso berühmten Orchester nicht so ganz warm geworden ist. Eben nur lauwarm; was schade wäre.

J. S. Bach:
Orchersuite Nr. 3 D-Dur BWV 1068
Kantate „Mein Herze schwimmt im Blut“ BWV 199

Robert Schumann:
Sinfonie Nr. 1 B-Dur op. 38 („Frühlingssinfonie“)

Gewandhausorchester Leipzig
Dirigent: Philippe Herreweghe
Solistin: Anna Korondi, Sopran

14./15. November 2002, Gewandhausorchester, Großer Saal

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