Schön wie ein Gebet: Compagnie ROSAS mit „Rain” bei der euro-scene (Beatrice Wolf)

17.11.02 Peterskirche, euro-scene 2002

?RAIN?
Choreographie: Anne Teresa de Keersmaeker

Compagnie: ROSAS, Brüssel

Musik: Steve Reich, ? Music for 18 musicians?
Kostüme: Dries van Noten
Bühnenbild und Lichtdesign: Jan Versweyveld
Technische Leitung: Luc Galle, Brüssel, Bernd Erich Gengelbach, Leipzig
Technik: Andy Wendorff, Leipzig


Großartig wie ein Gebet

?Diesmal wird es schwierig?, dachte ich mir schon nach den ersten Minuten ?Rain? in der wunderschönen Peterskirche. Alle inneren Aufzeichnungen verebbten, die Gedanken verflüchtigten sich im Kaleidoskop der Bilder in diesem außergewöhnlichen Raum. Empfindungen und perlendes Fühlen erfüllte mich zunehmend. Dann ließ ich mich bereitwillig fallen, denn was da vor meinen Augen entstand, war so friedlich und fast überirdisch schön, daß ich jede winzige Sequenz, jedes Detail, jeden Ton unreflektiert erleben wollte. Anne Teresa de Keersmaeker hatte uns ein Geschenk gebracht und dieses Geschenk hat Leipzig siebzig Minuten erhellt. Ein Glück für alle, die einen der zwei Abende erleben duften, schade für diejenigen, die keinen Platz mehr in den beiden völlig ausverkauften Vorstellungen fanden.

Ich weiß nicht, ob es eine Formulierung gibt, die ? glücklicher Applaus? heißt. Dieser Abend jedenfalls ging letztlich in einen solchen über. Wieder und wieder wurden die zehn Tänzer und Tänzerinnen auf die Bühne zurück geklatscht, als wollte sich das Publikum noch nicht trennen oder das eben Erlebte unbedingt behalten…

?Rain?

Der Bühnenraum war durch ein Halbrund aus schweren, weißen (Regen-) Schnüren begrenzt und doch durchlässig ? durchschaubar! An den Seiten des Raumes standen Stühle. Diese waren hinsichtlich des Materials (durchsichtiges Plexiglas) und Designs zeitlos, schlicht, transparent und strahlten Leichtigkeit aus – durchschaubar! Die Tänzer betraten die Bühne und bildeten, sich vielfach berührend, eine Gruppe. Als komponiertes Bild erschienen die vielen wie ein Ganzes.

Die Kostüme, im ersten Moment schon auffällig duftig, aus feinsten Geweben gefertigt, umspielten mit unglaublicher Zartheit in Pastell die Körper. Die Farben schienen aus einem gemeinsamen Mittelpunkt in ihre Variationen zu wachsen. Material und Schnitt ermöglichten auch hier den Einblick in das fleischliche Dahinter, auch sie waren – durchschaubar!

Steve Reichs Musik breitete sich im freundlich erleuchteten Raum aus. Wie sanftes Pulsen schichten sich Wellen aus Tönen übereinander und lösten Bewegung aus. Auf weißem Tanzboden mit farbigen Markierungen ergoß sich das Tänzergebilde in alle Richtungen. Jeder Tänzer mit individueller Körper-Sprache, in der Gesamtheit ein sich homogen artikulierendes Wir. Die wohltuendste Entdeckung in diesem Moment war, daß alle Tänzer in permanentem Kontakt zueinander standen, nie riß die gegenseitige Wahrnehmung und die direkte Ansprache an das Publikums ab. Jeder im gesamten Raum war integrierter Teil dieses Ganzen und wurde mit Aufmerksamkeit bedacht. Hier durften Tänzer MIT ihrem Gesicht erscheinen. Hier waren sie endlich ganz, im Gegensatz zu der unendlichen Menge gesehener brillanter Darsteller der vergangenen Jahre, bei denen einzig der Tänzerkörper unterhalb des Kopfes Leben auf den Bühnen suggerieren durfte oder das stereotype Zerrbild eines Lächelns jede echte Befindlichkeit maskierte. Hier waren Menschen. Darüber hinaus gab es einen ständigen Kontakt der Akteure untereinander. Waren körperliche Nähe und Berührungen Teil der Choreographie, schienen diese ehrlich, willkommen, wichtig. Keine Hebung endete im Nichts. Jede Entfernung hatte ein bewußtes, fast zärtliches Loslassen. Die gesamte Aufführung erhielt so, neben ihrer klaren, adäquat zur Musik verlaufenden komplexen Konstruktion, ein völlig unerwartetes, hohes Maß an Authentizität.

Die Leben spendende Kraft der Gemeinschaft gab hier der Musik ihre Deutung. Licht, Kostüme und deren fast unmerkliches Übergehen in leicht veränderte Formen und intensivere Farbtöne, die ständig pulsend auseinander hervorquellenden, fast euphorischen Tonfolgen sowie die zu keinem Zeitpunkt ermüdenden filigranen Bewegungsketten verdichteten sich zu einer furiosen Einheit, in der jede Komponente deutlich erfahrbar, jeder Tänzer wichtig und gleichberechtigt war.

Vielleicht lag es am Ort dieses Geschehens, vielleicht an Anne Teresa de Keersmaekers unbekannter Intention für dieses Stück, aber hätte ich ein Gebet für den ersten Moment nach diesem ?Regen? gehabt, so hätte ich nicht treffender beschreiben können, was ich der Menschheit in diesem Moment gewünscht habe, als es dieses Stück getan hat: Freude am Ich, im Wir und Achtung vor dem einzigartigen Geschenk unserer Existenz.

(Beatrice Wolf)

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