Medienvielfalt – Medieneinfalt

Sendermusik, die Reihe mit Neuer Musik im MDR-Studio am Augustusplatz

Noch immer ist der Volksmund am fantasievollsten und genauesten, wenn es um die Bezeichnung neuer Dinge geht. Nach den „Milchtöpfen“ alias „Elefantenbeinen“, wie die Eingänge zu den Tiefgaragen auf dem Augustusplatz so treffend heißen, nannte er das neue „MDR-Studio“ am gleichen Ort nun schlicht und ergreifend „black-box“. Und in der Tat weiß niemand so recht, was hinter den Mauern des Probe- und Aufnahmesaals der Rundfunkmusiker vor sich geht; denn öffentlich tritt das Orchester nach wie vor im Gewandhaus auf. Nur ab und an öffnen sich zu Konzerten die Mauern des Gebäudes für die neugierigen Blicke der Besucher.

Um den Werkstattcharakter von Konzerten, die in einem ?Studiosaal? stattfinden, zu wahren, bietet sich die Aufführung von Neuer Musik an, die in ihrer fragmentarischen Struktur oft schon an sich etwas quasi Provisorisches, eben „Werkstattcharakter“ hat. Nach dem Klangrausch-Festival im Sommer, das ebenfalls im neuen Gebäude am Augustusplatz stattfand, greift der MDR nun eine alte Tradition auf und veranstaltet ab dieser Saison unter dem Titel „Sendermusik“ eine eigene Reihe von Konzerten mit Neuer Musik. Und um dem eigenen Status gerecht zu werden, war das erste Event dieser Art einer kurzfristig erkorenen „Medienmusik“ gewidmet. Damit ist allerdings nicht Musik gemeint, die in den öffentlichen Medien ein besondere Rolle spielt, sondern Musik, die sich zu ihrer Artikulation im ursprünglichen Sinn des Worts verschiedenster Medien bedient. In dem Fall hieß das: „Elektronische und liveelektronische Musik unter Einbeziehung von Gerüchen, Szene und Visualisierung“.

Für Ensemble, Tonband und Videoprojektionen ist „Eröffnung und Zertrümmerung“ von Nicolaus A. Huber gedacht. Da das Werk an kein bestimmtes Videomaterial gebunden ist, wurden die beiden jungen Künstlerinnen Ilka Flohrer und Ulrike Felsing beauftragt, eigens für diesen Abend ein Video zu kreieren, was sie denn auch streng nach der Partitur taten. Unter Verwendung von Videosequenzen aus Amateurfilmen der 50er bis 70er Jahre entstand ein „Clip“, dessen Witz darin besteht, zwischen verschiedenen Filmen ständig hin und her zu zappen: Schneebedeckte Gipfel, Demonstrationen, Kinderzirkus, Trümmerfrauen, Gartenparty, Familienalltag. In Kontrast zu den musikalischen Entwicklungen, die doch eher linear zwischen konstruktiven und destruktiven Elementen verlaufen, entsteht so das seltsame Bewusstsein für eine scheinbare Parallelität und Zeitlosigkeit von unabhängigen, stark kontrastierenden Ereignissen, die durch das altertümliche Filmmaterial entrückt, dennoch ständig präsent und zudem noch eng miteinander verflochten scheinen. Und dies, obwohl ihr Inhalt das Gegenteil verrät.

Andererseits ist das formale Element, das Musik und Video verbindet, der Rhythmus. Denn was für die Musik fast generell gilt, gilt in dem Fall auch für den Film, dessen Struktur allein durch die ständig modifizierten Abfolgen der Schnittstellen bestimmt wird, an denen von einem Band zum anderen gesprungen wird. Diese Schnittstellen-Sequenzen bilden einen Rhythmus alternierender Ereignisse, die immer nur fragmentarisch zu erleben sind. Da jedoch die Rhythmen von Musik und Film nur partiell zusammenkommen (was mitunter sehr humorvoll kombiniert wird) und sich zu oft verselbstständigen (wenn die Musik stillsteht, läuft das Video munter weiter oder umgekehrt), entsteht an keiner Stelle ein wirklich nachvollziehbarer Zusammenhang. Denn dadurch, dass die optischen und musikalischen rhythmischen Formen divergieren, bleibt die Semantik der einzelnen Bildinhalte, die ja eigentlich bewusst durchbrochen werden soll, letztendlich doch das einzige Mittel, um auch für die Musik eine Erklärung zu finden. Und dieses Mittel ist nicht adäquat. Denn der in dieser Konzeption einzig wirksame Zusammenhalt wäre die Parallelität der zeitlichen Abfolgen von akustischen und optischen Ereignissen gewesen, so etwa wie am Schluss, wenn die Bilder zu einem langsam verklingenden ?Pfeifton? in Langsamkeit verebben.

Allemal imposant an solch einem Werk ist die Aufführung. Der behutsam und genau agierende Dirigent Titus Engel hatte die Aufgabe, sich mit seinen Musikern genau an die Zeitvorgaben der Partitur und des Videos zu halten. Eine Aufgabe, die umso undankbarer war, als sie sich per Video auch optisch vom Auditorium genau nachvollziehen ließ.

Ein Spaziergang durch eine Landschaft von Schlaginstrumenten, auf den sich eine Flötistin – mit einem Papagenoliedchen auf den Lippen – begibt, erleben wir im „Zauberhaften Garten“ der rumänischen Komponistin Myriam Lucia Marbe. Das der Interpretin des Abends, Carin Levine, gewidmete Stück verlangt ständige Unterbrechungen des sehr poetischen Flötenspiels, in denen die Solistin verschiedene Schlaginstrumente wie Hindernisse bedienen bzw. überwinden muss. Zugleich vervielfältigt sich mit Hilfe eines Tonbands das Spiel auf geheimnisvolle Weise, wird irritierend verstärkt und untermalt. Alles in allem wirkt diese Komposition, auch durch das intensive und lyrische Spiel Levines, wie eine Verzauberung von Instrumentalklängen, die ihre Vertrautheit in dieser spezifischen Konstellation verlieren und ein geheimes Wissen preisgeben, welches sich freilich nicht durch sprachliche Interpretationen wiedergeben ließe.

Instrumentalklänge neu zu entdecken, ist auch das selbsternannte Ziel von Thomas Christoph Heydes „Umgang-Aufstieg-Abstieg“ für Blas- und Schlaginstrumente, Tonband und Liveelektronik. Aus einem Klangrausch, der aus der Tiefe aufsteigt, stechen auf fast explosive Art die einzelnen Liveinstrumente hervor. Die Ruhe nach dem Sturm wird eingeleitet durch Küss- und Schmatzgeräusche, deren Herkunft von einer Quietschente dem Ganzen den Ernst nehmen soll. In der darauffolgenden Stille und dem ruhigen Innehalten wird der Klang aufgesplittet in eine flache Ebene mit Vogelrufen und Glockenläuten. Auf diese Weise erhält er nicht nur eine quasi räumliche, sondern auch eine überraschend narrative Dimension. Wenn sich danach die Klänge wieder zu einer festeren Masse verdichten, sind die Klangfarben bestimmter, sie sind identifizierbar geworden, nicht mehr chaotisch, wie zu Beginn. So scheint die Musik auch in dieser Phase etwas zu erzählen, besitzt einen zusätzlichen, verschieden deutbaren Gehalt. Am Ende dieser Entwicklung steht das Zusammenspiel der Instrumentalisten, das nun kammermusikalische Qualitäten annimmt. Fast mutet es wie eine Heimkehr zu den Anfängen des klassischen Musizierens an.

An dieser Stelle hätte Heyde gut und gern enden können; denn jede weitere Fortsetzung wirkt nach dieser konstruktiven Entwicklung irgendwie störend. Doch er möchte noch einmal einen Sturm heraufbeschwören, der wie eine übersteigerte Metaphorik der „Blasmusik“ die originalen Instrumentalklänge verfremdet und im allgemeinen Rumor einer gewaltigen „Windmaschine“ den Bogen zurück zum eher chaotischen Anfang schlägt.

Der eigentliche Höhepunkt des Abends war dann Luigi Nonos „Post-prae-ludium n 1 „per Donaueschingen“ für Tuba und Liveelektronik“. Hinter den leisen Tönen der Tuba sammelt sich auf elektronischem Weg eine Corona von Echos, die aus geheimnisvollem Gesang gewoben ist. So wird aus dem Nachhall ein selbstständiges Raunen, das den Hörer unmittelbar anrührt und ihn für kurze Zeit den Ort des Geschehens vergessen lässt.

Heyde, der das Konzert auch moderierte, wies völlig zurecht daraufhin, dass Nono immer wieder vorrangig als ein politischer Komponist behandelt wird, wodurch der Blick auf seine eigentliche musikalische Bedeutung getrübt wird. Allerdings ist das Besondere an Nonos Politisierung der Musik die Konzentration auf das Wort und auf dessen Bedeutung auch in der wortlosen Kunst. Und beides, Wort und Bedeutung, äußern sich in der Musik vorrangig über den Gesang. Nono ist einer der wenigen musikalischen Künstler des 20. Jahrhunderts, die selbst in ihren geräuschhaftesten Kompositionen noch etwas Singendes haben, nicht immer in Melodien, aber immer auf eine Weise, die den widerstandslosen Weg ins tiefste Innere des Menschen findet. Die Art, wie Nono solches gelingt, macht den entscheidenden Unterschied aus zu den meisten seiner Schüler und Adepten.

„Die Nacht sitzt bei Tisch“ von Gerhard Stäbler, Musik für zwei Klarinetten, Bassklarinette, Sprecherin, Synthesizer und Gerüche nach einem Text von Oswaldo de Camargo“O estranho“ (Der Fremde), besitzt so etwas wie Happening-Charakter, und dies mit all dem Krampf und der Bemühtheit, wie man sie nur in der Musik des 20. Jahrhunderts findet. Eine junge Dame (wer sonst) öffnet, welch Skandal, Müllsäcke, denen übler Geruch entsteigt (oder wenigstens entsteigen sollte) als Kontrapunkt zur Musik, die vor allem durch zwei mehr oder weniger monoton vor sich hin spielende Klarinetten erzeugt wird. Die Bewegungen der Dame finden ihrerseits einen unfreiwilligen, aber deshalb nicht weniger reizvollen Kontrapunkt in den Bewegungen eines Fotografen, der die Weiblichkeit mit der Penetranz einer Fliege umkreist. Doch selbst als die Gerüche durch zwei Spritzpistolen mit Haushaltswaren-Duftaroma verstärkt werden, wobei Madame sich zu Siegerposen hinreißen lässt, ist manch aufdringliches Parfüm und der Mundgeruch der MDR-Hustenbonbon essenden Konzertbesucher nicht zu toppen. Eine Art Geruchsaleatorik also, die der Komponist so nicht vorherriechen konnte.

Vorn auf der Bühne angekommen, untermalt die Protagonistin die Gerüche und die Musik durch Geräusche, durch rollende Steine genauer (was leider aus der Truppe noch keine Rolling Stones macht). Woraufhin die Gerüche- und Geräuschemaid zur Sprecherin permutiert, sozusagen seriös wird. Aber das nützt nun auch nichts mehr, denn die durch kurze Synthesizer-Abwechslung unterbrochene Ödnis der Musik kann weder das Mitsummen der Instrumentalisten noch die Textunterlegung noch das anschließende „Steine in den Eimer Werfen“ retten. So bleibt nur der unfreiwillige Humor, ein Stück zu retten, welches die Neue Musik so wohl eher nicht braucht.

Sendermusik, Reihe mit Neuer Musik im MDR-Studio am Augustusplatz

„Medienmusik“

1. Konzert, 19.11.2002

Ausführliches Programm / Ausführende:

Nicolaus A. Huber (geb. 1939)
„Eröffnung und Zertrümmerung“ (1992)
für Ensemble, Tonbänder und Videoprojektionen
Video: Ilka Flohrer, Ulrike Felsing

Myriam Lucia Marbe (1931-1997)
„Le jardin enchanté“ (Der zauberhafte Garten) (1994)
für einen einzigen Interpreten
-Carin Levine gewidmet-

Thomas Christoph Heyde (geb. 1973)
„Umgang-Aufstieg-Abgang“
für Piccoloflöte, Oboe, Schlagzeug, 4-Kanal-Tonband und Liveelektronik

Luigi Nono (1924-1990)
Post-prae-ludium’n. 1 „per Donaueschingen“
für Tuba und Liveelektronik

Gerhard Stäbler (geb. 1949)
„Die Nacht sitzt am Tisch“ (1992)
Version für Klarinette, Bassklarinette, Sprecherin, Synthesizer und Gerüche
Text: Oswaldo de Camargo „O estranho“

Auführende: Mitglieder des MDR Sinfonieorchesters
Dirigent: Titus Engel

Solisten:
Carin Levine, Flöte (Marbe)
Ralf Mielke, Flöte (Heyde)
Eckehard Schubert, Klavier
Johanna Jellici, Stimme
Valerie Funkner, Akkordeon
Robert Schenker, Klarinette
Alexander May, Bassklarinette

Jan Debertshäuser, Licht
Henry Lemser, Klangregie
Thomas Christoph Heyde, Klangregie, Moderation

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