Uneitler Klangsinn im Dienst großer Musik

Die Sache mit dem Leipziger Konzertpublikum: Ein Klavierabend mit Michael Endres

Leipzig hat ohne Zweifel ein begeisterungsfähiges und sachkundiges Publikum für gute Musik, auch wenn weniger klangvolle Namen mitunter (leider!) nicht zur Kenntnis genommen werden. Dass aber ein phänomenales Konzert derart an den Zuhörern abprallt, wie am Buß- und Bettag im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses, verwundert und empört zugleich. Dabei hatte der international renommierte Pianist Michael Endres ein recht attraktives und gleichzeitig nicht alltägliches Programm mitgebracht.

Gleich zu Beginn eine Verneigung vor der Bachstadt, die sofort aufhorchen lässt. Keineswegs puristisch und ohne das Cembalo imitieren zu wollen, geht Endres das Italienische Konzert an, legt seinen Bach außerordentlich gesangvoll an, setzt auf weitreichende Linien, verliert sich nicht in Details und erreicht immer noch Durchhörbarkeit. Mit dem traumhaften zweiten Satz hält Endres die Zeit an, genießt harmonische Auflösungen und Wendungen fast bis ins Unendliche. Im abschließenden Presto, in atemberaubendem Tempo gespielt, ist es erneut da, dieses unglaubliche Fließen und Singen, bei dem die über jeden Zweifel erhabene Virtuosität gegenüber Natürlichkeit und Musikalität bescheiden in den Hintergrund tritt. Eine sehr individuelle Sicht auf Bach, die abseits von Mainstream-Barock und Authentizitätswelle viel zu sagen hat.

Mit einführenden Worten versucht Michael Endres dann, das Herz der Zuhörer für eine Rarität zu öffnen. Die einsätzige Sonate Nr. 1 des hierzulande kaum bekannten englischen Komponisten Sir Arnold Bax erklingt als ein hochdramatisches, kontrastreiches Werk, das in seiner dunklen, rauen Tonsprache wie eine Zusammenführung der Musik Liszts mit der nordeuropäischen und russischen Spätromantik erscheint, dabei jedoch seinen Platz schon eindeutig im zwanzigsten Jahrhundert einnimmt. In dieser sehr effektvollen, fast ein wenig zu dick auftragenden Musik reizt Endres das „Fortepiano“ genannte Instrument bis an die Schmerzgrenze aus, kann dabei jedoch auf eine fantastische Anschlagskultur bauen, die niemals ins Brutale abgleitet.

In den vor der Pause erklingenden Lisztschen Adaptionen dreier Schubertlieder lässt er abwechselnd mal Liszt, mal Schubert hervortreten und verzichtet ganz auf opulente Überzeichnung.

Die Sensation des Abends soll jedoch die Sonate in A-Dur D 959 op.posth. von Franz Schubert werden. Expressiv, ohne die poetische Zurückhaltung eines Brendel, entfaltet der frühere Klavierpartner von Hermann Prey in dem an Dissonanz und Chromatik reichen Kopfsatz sinfonische Strenge, deckt die Zerissenheiten des späten Schubert auf und entlarvt die Harmlosigkeit des zweiten Themas als Täuschung. So existentiell und tief bewegend hört man diese Musik nur ganz selten.

Im fahlen, „Leiermann“-Atmosphäre heraufbeschwörenden Andantino entwickelt sich ein Zwiegespräch mit dem Komponisten, in welchem Endres Resignation und Todesahnung eindringlich gestaltet. Wenn er dann das verzweifelte Aufbegehren des Mittelteils zur Ruhe singt, muss einem um Trost nicht mehr bange sein. Das Scherzo hält anschließend Klaviermusik der reinsten Spielfreude bereit, ehe der fabelhafte Musiker im Rondo Allegretto mit viel Übersicht und Klangsinn demonstriert, warum Robert Schumann die Schubert’schen Längen „himmlisch“ fand.

Spätestens an dieser Stelle nun hätte der Saal beben müssen, stattdessen gab es artigen Applaus. Die als Letztes auf dem Programm stehenden 12 Tänze von Schubert änderten daran auch nicht mehr viel und bildeten den Abgesang auf einen Abend, an dem Künstler und Publikum leider nicht so recht zueinander fanden. Von Michael Endres kann man nur hoffen, dass er trotzdem wiederkommt und eine dialogbereitere Zuhörerschaft findet! Zu sagen hat her jedenfalls eine Menge.

Klavierabend

Johannes Sebastian Bach:
Italienisches Konzert F-Dur BWV 971

Sir Arnold Bax:
Sonate Nr. 1

SchubertLiszt:
Liebesbotschaft – Der Lindenbaum – Die Forelle

Franz Schubert:
Sonate A-Dur D959 op.posth.
12 Tänze

Michael Endres, Klavier

20.11.2002, Gewandhaus, Großer Saal

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