Lesung mit Peter Esterhazy im Rahmen des Leipziger Literarischen Herbstes 2002
Sigrid Löffler stellt auf ihre bekannte seriöse Art den Autoren Peter Esterhazy als das eine Glied der ungarischen Autoren-Trojka „Kertesz – Nadas – Esterhazy“ vor, der aus „dem sogenannten Translatanien“ stamme und sich als begnadeter Ironiker erwiesen habe. Die Ironie, die über die ungewöhnliche Verbindung von Gegensätzen entstehe, wie z. B. in der Vermischung von Trauer und Spott, finde sich sowohl in seinem 1976 herausgegebenen Erzählband „Francsiko und Pinta“ als auch in dem eben in Deutschland erschienenen Roman „Harmonia Caelestis“ wieder, aus denen Esterhazy an diesem Abend vortragen werde. Kurz führt Frau Löffler in beide Bücher ein, in denen der Vater des jeweilig erzählenden Sohnes den Mittelpunkt der Werke bildet. Ihre prägnante, Übersicht schaffende Einführung läßt die zahlreichen Zuschauer (die Alte Börse war fast bis auf den letzten Stuhl gefüllt) aber nicht ahnen, mit welcher Spritzigkeit Peter Esterhazy im nächsten Augenblick Ausschnitte aus diesen beiden Büchern vorlesen, noch was für ein fulminanter Angriff auf ihre Lachmuskeln erfolgen wird.
Peter Esterhazy sitzt allein am Tisch und liest die erste Überschrift vor: „Vor dem Besuch“. – An dieser Stelle hält der Autor inne, prüft, ob er besser mit oder ohne Brille lesen kann und bemerkt, es hänge immer von den Lichtverhältnissen ab, ob er seine Brille brauche oder nicht und setzt dabei die Brille ab. Nochmals schaut er ohne Brille prüfend ins Buch und kommentiert beiläufig: „So kann ich Sie, das Publikum, wenigstens nicht mehr sehen.“ Eine allgemeine Erheiterung durchzieht darauf den Saal.
Es geht weiter im Text. Esterhazy liest eine Passage vor, in der die Mutter wütend ihren Sohn badet, um ihn sauber zu dem von ihnen getrennt lebenden Vater zu schicken. Dem Sohn schwant dunkel, daß es der Schmerz der Mutter ist, der dazu führt, daß sie ihn so lange einseift, bis er schäumt. Doch weil sie ihn so stark abreibt, kommt sie ihm dennoch wie eine bösartige Schlange vor, die sich um seinen Körper windet. Unzählige komische, groteske Bilder, in denen die Mutter Körperteile verliert, steigen dem Jungen auf. Es scheint als erkenne der Junge in seinem Unterbewußtsein, daß seine Mutter an der zerbrochenen Beziehung zum Vater zerbricht. Und in seiner kindlichen Rationalität gelangt der Junge zu der Erkenntnis, daß diese Waschung den einzigen Zweck verfolgt, jegliche Erinnerung an den Vater mit Seife wegzuwaschen. Das kommt einer Selbstverleugnung gleich. Dies spricht der Junge explizit in der nächsten Szene aus, als er beobachtet, wie seine Mutter Photographien seines Vaters zerschneidet, auf denen dieser mit anderen Frauen abgelichtet ist. Die Bewegungen der Mutter werden von Bild zu Bild fahriger, die Schnitte immer ungenauer. Die Mutter metzelt regelrecht amputative Operationen in den Körper des Vaters, bis dieser zum Krüppel wird. Der nüchterne Blick des Jungen ist neugierig beobachtend, belustigt von dem übertriebenen Verhalten seiner Mutter und im selben Augenblick verständnislos und betrübt. Dadurch entsteht eine Satire, die wie in der vorherigen Szene auch nicht ohne Wirkung auf die Zuhörer bleibt. Noch bevor ihr Lachen verebbt, langt Esterhazy beim Resümee des Jungen an: Die Verleugnung der Bilder komme der Verleugnung des Selbst und damit der Verneinung der eigenen Existenz gleich.
Den Rosenkrieg zwischen den Eltern thematisiert auch der erzählende Sohn im Roman „Harmonia Caelestis“. Es bestehen weitere Parallelen zwischen diesen Werken. Besonders an einer Szene, die in beiden Prosastücken bis auf die Verwendung einiger Synonyme identisch ist, wird deutlich, wie eng sie zu einander stehen. In dieser Szene schlüpft der jeweils erzählende Sohn in die Innensicht des zugehörigen Vaters und erkennt dadurch, daß die schlechteste Eigenschaft des Vaters „der eitle Hochmut“ bzw. „die Hoffart“ ist. Auch wenn Esterhazy die Zuhörer vor seiner zweiten Rezitation dieser Szene darauf hinweist: „Die folgende Szene kennen Sie bereits!“, drängt sich hier die Frage auf, ob es nun die dreiste Genialität des Autors ist, ein- und dieselbe Szene in zwei Werken zu verwenden oder ob es sich hier um eines seiner zentralen Themen handelt, das sich in seiner Ausgestaltung über Jahrzehnte hinweg nicht verändert hat.
Doch schnell verblaßt dieser Gedanke angesichts der rasant aufeinander folgenden Anekdoten, die sich über die angespannt lauschenden Zuhörer wie ein Zaubermittel ergießen, das Lachen erzeugt. Eine Ingredienz dieses Zaubermittels ist z.B. die Erinnerung des Sohnes, daß sein Vater für fünf Forint und einen Apfel bereit war, eine Maus in zwei Teile zu beißen. Der Zusatz, daß er selbstverständlich nur selbstgefangene Mäuse zerbiß, modifiziert das von Ekelgefühlen hervorgerufene Lachen zu einem rein belustigten Lachen. Auch die Überzeugung des Vaters, die Mutter habe auf Pfiff umgehend mit einem „I love you“ zu reagieren, provoziert Lachen, das durch den knappen Kommentar des Vaters gesteigert wird: „So viel kann man sich ja noch merken!“ Eine weitere magische Zutat ist das Verhalten der Mutter, wie z. B. daß sie in den letzten Tagen des Vaters entgegen seinem Wunsch nicht Wagner sondern Schubert aufgelegt hat.
Alle diese geschilderten Repliken, Verhaltensweisen und Äußerungen ebenso wie die Beschreibung von familiären Riten und Besonderheiten stehen unter dem Motto des Vaters, einem der berühmtesten Sätze der Familie Esterhazy: „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt.“ Es scheint, daß dieser Aphorismus die innere, logische Regel des Erzählens dieses Autoren darstellt. In den Erinnerungen der Söhne vermischen sich Wahres und Phantasie, Realität und Groteske zu einer Parodie, die die schwer ertragbare und kaum faßbare Wirklichkeit mit Hilfe einer kindlich naiven Unschuld verschlüsselt. Auf diese Weise werden Erinnerungen sagbar, die ansonsten aus Anstandsgefühl, aus Angst vor dem Verlust der persönlichen Integrität oder einfach wegen ihrer banalen Alltäglichkeit verschwiegen oder aber in Lügen gekleidet worden wären. Esterhazy ist es in seiner Prosa nicht nur gelungen, den analytischen Blick auf die Familie in eine umfassende Gesellschaftskritik einzubetten, sondern auch schmerzvolle Erinnerungen an die Auswirkungen der kommunistischen Diktatur mit stereotypen Vorurteilen der Ungarn gegenüber Menschen aus dem „Westen“ zu verdecken.
Daß Esterhazy mit den parodistischen Aphorismen und Anekdoten einen amüsanten, spannenden Ton für diese Thematik findet, zeigt der Beifall der Zuhörer. Die Szenen, die Esterhazy in einem sehr guten Deutsch und mit einer hervorragenden Intonation rezitiert, führt zu heiterem Hochgefühl in der Alten Börse. Auch die anschließende, nüchtern wirkende Befragung des Autoren durch Frau Löffler kann diese Stimmung nicht kippen, denn es zeigt sich, daß Peter Esterhazy auch außerhalb seiner Prosa sich selbst und seinem Gegenüber mit einem ironischen Schmunzeln begegnet. So beantwortet er die Frage nach der gewählten Ordnung in seinem Roman, daß er versucht habe, die Kapitel nach Themen wie z.B. Kuss, Regen und Tod zu ordnen. Doch wo solle man eine Szene einordnen, in der sich zwei Menschen im Regen küßten, bevor der eine von ihnen plötzlich tot umfällt? Da es also keine wirkliche Ordnung geben könne, habe er die Kapitel einfach numeriert und damit fragmentiert, obwohl er wisse, daß man damit sofort drei Milliarden Leser verlieren würde.
In Leipzig scheint Peter Esterhazy keine Leser verloren zu haben. Obwohl das Publikum leider nicht in die Diskussion einbezogen wird, reiht sich nach der Lesung eine endlose Zuhörerschlange vor dem Pult des Ungarn auf, die alle auf ein Autogramm in ihrem neu erworbenen Roman „Harmonia Caelestis“ warten. Peter Esterhazy hat an diesem Abend bestimmt neue Leser gewonnen, und mit Sicherheit warten auch schon einige seiner Leser gespannt auf den Appendix dieses Romans, der für das nächste Jahr angekündigt wurde.
Lesung mit Peter Esterhazy im Rahmen des Leipziger Literarischen Herbstes 2002
Moderation: Sigrid Löffler
23.11.2002, Alte Handelsbörse
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