Durch ein Jahrtausend wie in einem Augenblick

Gregorianische Gesänge und zeitgenössische Kompositionen in einem Konzert in Tallinn

Es ist kalt. Raschen Schrittes eilt jemand durch die engen und verwinkelten, mal freudig hell, mal gespenstisch spärlich beleuchteten Gassen des mittelalterlichen Weltkulturerbes Tallinn. Er überquert den Rathausplatz, bleibt sich umwendend kurz stehen, um das märchenhaft angestrahlte Rathaus aus dem 12. Jahrhundert zu betrachten. Doch er eilt weiter, die Kälte treibt ihn vorwärts. Schon ist er an der Pühavaimu kirik (Heiliggeistkirche) vorbei. Auch das alte Gildenhaus der Schwarzhäupter hat er mit einem kurzen Blick bedacht. Ein paar Schritte noch und er hat das soeben betretene schmale Gäßchen verlassen und biegt nach rechts auf die Lai tänav (Breite Straße). Die Gebäude des Linnateater (Stadttheaters) schmiegen sich dicht aneinander, es sind herrlich illuminierte mittelalterliche Kaufmannshäuser. Doch pötzlich stutzt er. Dort geradeaus, wo doch sonst die dunkle Oleviste kirik (Oleviste Kirche) steht, erhebt sich ein weißer schöner Turm – ob dieser wohl so beleuchtet ist, dass er gänzlich weiß erstrahlt? Doch nein, man hat die Fassade ja vor kurzem renoviert. Schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtet und den Namen des norwegischen (später heilig gesprochenen) Königs Olav Haraldsson (995-1030) tragend, hatte diese Kirche im Spätmittelalter den höchsten Turm Nordeuropas. Von hier soll 1524 die Lutherische Reformation in Tallinn (unter den damalig herrschenden Baltendeutschen Reval genannt) begonnen haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg, genauer gesagt seit 1950, vereinigten sich vier freie Kirchen (unter ihnen die Baptisten) zur Oleviste Kirche. Ihnen gehört die Kirche bis heute.

Der Rezensent weiß nicht genau, was ihn im heutigen Konzert erwartet. Eines jedoch weiß er, dass Werke junger estnischer Komponisten gespielt werden und dass das Ensemble Vox clamantis unter Jaan-Eik Tulve, bekannt für seine Konzerte mit mittelalterlicher Musik, singen wird. Und auch das Ensemble des Studios für elektronische Musik der Musikakademie ist mit von der Partie – und er wird überrascht werden.

Die ehrwürdige Kirche betretend empfängt ihn das hohe dunkle Kirchenschiff, der Altarbereich jedoch ist mit rötlichem Lichte übergossen. Und in dessen Mitte befindet sich ein mit schwimmenden Kerzen bedecktes Wasserbecken. Es scheint zum Taufen gedacht zu sein. Unwillkürlich denkt er an ein Konzert zurück, welches ihn vor nicht allzu langer Zeit im „Estonia“ Konzertsaal begeistert hatte. „Fantaasia veelöökpillidele“/“Fantasie für Wasserschlagwerk“ hieß es und der amerikanische Solist Steven Schick hatte damals gemeinsam mit seinen Kollegen vom ERSO unter Olari Elts (dem Estnischen staatlichen Sinfonieorchester, welches seit dieser Saison allerdings wirtschaftlich auf eigenen Füßen steht und dies mit Bravour meistert) das Publikum mit exotischem Wasserschlagwerk begeistert. Des Chinesen Tan Duns Konzert aus dem Jahre 1998 für Orchester und eben diese großen wassergefüllten und von innen erleuchteten Glashalbkugeln war der Höhepunkt eines wunderbaren Konzerts gewesen, in dem das Wasser auch bei Ottorino Respighis „Fontane di Roma“ (1916) eine programmatische Rolle gespielt hatte. Der Konzertsaal war auch damals, so wie heute die Kirche, verdunkelt gewesen und aus der Stille heraus erklangen die exotischsten Töne.

Aber exotische Ereignisse hat unser Rezensent schon einige hier erlebt. Vor ein paar Tagen gastierte auf seiner Welttournee das traditionelle japanische Nô-Theater im Eesti Draamateater (Estnischen Dramatheater). Schon immer wollte er dieses alte und überall für seine Langsamkeit, Farbenprächtigkeit und der tiefenpsychologischen (aus der Lehre des Buddhismus stammenden) Spiegelung der Realität gerühmte Theater aus Fernost erleben. Und tatsächlich, eines der ältesten Theater der Welt, ausgestattet mit reich geschmückten Kleidern und Masken, mit liebevollen Details und Originalinstrumenten (Trommeln, Flöte) zieht den Betrachter unwillkürlich in seinen Bann; auch beeindruckt die unlösbare Einheit zwischen Sprache, fernöstlicher Mikro-Ton-Gesangweise, Trommelklängen, Farben sowie aufs Wesentliche konzentrierten Bewegungen und Gesten.

Wie aus dieser Erinnerung heraus nimmt der Rezensent langsam die elektronischen Klänge, die ihn umgeben, wahr und befindet sich wieder in der Oleviste Kirche, um das abendliche Konzert zu erleben. Der erste Gregorianische Choral erklingt aus der Ferne durch das düstere Kirchenschiff.

Vox Clamantis eröffnet damit das Konzert und aus der Zusammenarbeit des Ensembles Küberstudio/Cyberstudio mit Vox clamantis (in Organisation von Heinavanker und Sonico erwächst ein Multimeediaabend mit vielfarbiger, spannender und ergreifender Musik. Das Konzert ist am Puls der Zeit, verbindet Modernes mit dem Geist der abendländischen mittelalterlichen Einstimmigkeit. So wie das Motto des Konzerts voraussagt, ist alles bereitet, um „tausend Jahre wie in einem Tag“ zu durchleben. Es scheint, als ob die Zeit stehen geblieben ist. Die Olevistekirche hat in ihrem langen Leben schon einiges gesehen, aber solch ein Konzert mit Beleuchtungskunst und Wasserbewegung, Live-Elektronik und Videokunst ist dennoch ein außergewöhnliches Ereignis. Besonders aus der Vereinigung der Glocken und Glöckchen aus Tibet mit den Gregorianischen Gesängen entsteht ein Zusammenklang zwischen den Religionen des Christentums und des Buddhismus‘. Die auf der Wasserfläche schwimmenden Kerzen geben neben dem künstlichen Licht der Projektoren warmes und natürliches Licht.

Im Konzert erklingen alternierend Gregorianische Choräle und zeitgenössische, überwiegend estnische Musik für Flöte, Elektronik, Live-Elektronik und Schlagwerk. Die Werke sind allesamt in den letzten Jahren entstanden. Galina Grigorjevas „Lament“ für Solo-Altflöte ist tatsächlich eine Musik mit allen Elementen des Seufzens und Trauerns. Mart Siimers „Pöörlev gloobus“/“Rotierende Globus“ für Flöte und Fonogramm lässt sich durchaus mit für unsere Ohren imaginärer Musik eines sich bewegenden Himmelskörpers assoziieren. Die „Korduste tehnika“ (Wiederholung von gleichen oder ähnlichen musikalischen Motiven) verrät Siimers Musik als aus dem estnischen Kontext stammend. Mirjam Tallys „Veetilgas sätendab veel möödundaastane päike“ für Flöte, Glocken aus Tibet und Fonogramm läßt den im Titel genannten „Veetilk“ (Wassertropfen) wirklich vor dem inneren Auge erglitzern. Die Sonne des vorigen Jahres, so wollte es die Komponistin, sollte sich in ihm widerspiegeln. Die Assoziation über den musikalischen Ausdruck ist gelungen.

Eines der fesselndsten Werke des Abends ist Rauno Remmes „Railway to London“ für Flöte, Fonogramm und Live-Elektronik (2002 für diese Besetzung arrangiert von Margo Kólar). Zu Beginn herrscht echte Bahnhofshallen-Atmosphäre mit einem Lautsprecheransager, aber schon bald wird klar, dass diese Stimme kein echter Bahnhofssprecher sein kann, denn seine Ansagen werden zu Melodien modifiziert. In jedem Augenblick überraschen das Publikum neue Kunstgriffe, die Musik verwandelt sich aus barockstilistischen Themen zu romantischen Klängen und plötzlich dringen popmusikalische Schlagzeugrhythmen aus den Lautsprechern. Auch die Flötistin geht mit diesen treibenden Metren mit -Popmusikatmosphäre entsteht. Remmes Musik ist jedoch nicht einfach nur eine postmodernistische Collage, sondern eine Synthese von Stilen der vergangenen Jahrhunderte. Erschütternd wirkt der plötzlich Abbruch der Musik (so war es ursprünglich nicht gedacht) und der frühe Tod des vor kurzem (März 2002) verstorbenen Komponisten wird aus der Erinnerung in den aktuellen Augenblick gerissen… Als wäre das Konzert ein Requiem für Rauno.

Pierre Jodlowskis Stück „Dialog/No Dialog“ für Flöte und Live-Elektronik bringt zusätzlich zu den Lichtprojektoren die lang erwartete Video-(Computer-) Kunst. Der Zusammenklang zwischen der Musik und den sich ständig verwandelnden optischen Farbfiguren begeistert das Publikum. Im Gedächtnis bleibt besonders, dass die vielfarbigen und fantasiereichen Gebilde auf das Altarbild projiziert sind. Somit ist das an Grünewald erinnernde Altargemälde Hintergrund und Inhalt zugleich und manchmal entstehen sogar kirchenfensterähnliche Figuren und lassen das Christusbild in völlig neuem Lichte erstrahlen.

Galina Grigorjevas „Quasi niente“/“Quasi nichts“ für Flöte, Vibraphon und Xylophon beschließt die Reihe der Musik zeitgenössischer Komponisten. Ihre Musik ist fein strukturiert, aber anders als der Titel es vorgibt ist doch einiges zu hören und zu sehen. Die zuvor erklungene Musik lässt sich nicht negieren. Das Konzert wird von einem gregorianischen „Ave Maria“ beschlossen und der alle Sinne ansprechende Multimediaabend in der Oleviste Kirche klingt mit einer tausend Jahre alten abendländischen Melodie aus. Der Kreis zum Anfang ist geschlossen, die Zeit löst sich allmählich aus ihrem im Augenblick verharrten Zustand und schreitet erneut ausdauernd voran.


7. Dezember 2002, Tallinner Oleviste kirik (Oleviste Kirche)“Tuhat aastat nagu üks päev“/“Tausend Jahre wie ein Tag“
Gregorianische Gesänge und zeitgenössische Kompositionen von G. Grigorjeva, M. Siimer, M. Tally, R. Remme und P. Jodlowski

(Detailliertes Programm am Ende des Textes)Vox clamantis (künstlerischer Leiter und Dirigent Jaan-Eik Tulve)
Küberstuudio/Cyberstudio

Monika Mattiesen – Flöten
Margo K?lar – Live-Elektronik
Kaido Mikk – Beleuchtungskünstler
Vambola Krigul – Schlagwerk
Peeter Salmela – Tibeter Glocken und Glöckchen

Detailliertes Programm

Im Wechsel mit
Gregorianischen Chorälen
erklingen: Galina Grigorjeva (*1962): „Lament“ für Solo-Altflöte (2001) (www.emic.kul.ee, www.er.ee/klassik/rost/grigorjeva_eng.htm)Mart Siimer (*1967): „Pöörlev gloobus“/“Rotierende Globus“ für Flöte und Fonogramm (2000)
(www.emic.kul.ee, www.geocities.com/vienna/strasse/7452/index1.html)Mirjam Tally (*1976): „Veetilgas sätendab veel möödundaastane päike“/“Im Wassertropfen glitzert noch die Sonne vom vergangenen Jahr“ für Flöte, Glocken aus Tibet und Fonogramm (www.er.ee/klassik/rost/mirjamtally.htm)Rauno Remme (1969?2002): „Railway to London“ für Flöte, Fonogramm und Live-Elektronik (2002 für diese Besetzung arangiert von Margo Klar) (www.emic.kul.ee, www.artun.ee/~rauno/Rauno.htm)Piere Jodlowski: „Dialog/No Dialog“ für Flöte und Live-ElektronikGalina Grigorjeva: „Quasi niente“/“Quasi nichts“ für Flöte, Vibraphon und Xylophon


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.