Chronist des Vergangenen

Scholem Alejchem setzt dem Archetypen des Milchmanns Tewje im Schtetl um 1900 ein Denkmal

„Wenn ich einmal reich wär?“, singt der Milchmann Tewje im Musical Anatevka, das auf dem Roman von Scholem Alejchem (1859-1916) basiert. Arm an Geld, reich an Kindern, träumt Tewje von einem erfüllten Leben ohne Entbehrungen und Demütigungen. Doch das Schicksal will es anders und stellt seinen Glauben immer wieder auf schwere Proben. Tewje ist ein moderner Hiob – eine Dulderseele, die wahrlich allen Grund hätte, mit Gott zu hadern: Nach einem unverhofften Geldsegen wendet sich plötzlich das Blatt. Er muss mit ansehen, wie seine Familie auseinander bricht, wie sich das ganze Dorf gegen ihn stellt. So bleibt er am Ende allein zurück, mit nichts als seinem Gottvertrauen und einem unerschütterlichen Humor.

Dem Buch eilt der Ruf voraus, der Städtelroman par exellence zu sein. Es steht aber in Verbindung mit drei anderen Klassikern der jüdischen Literatur, die das Jiddische in den Rang einer Literatursprache erhoben haben. Mendele Moicher Sforim war ein scharfer Kritiker des Schtetls mit seinen Hierarchien, Zwängen und existierendem Aberglauben. Issak Leib Perez wird als der Vater der „neuen jiddischen Literatur“ bezeichnet. Er schilderte in sehr romantischer Form das Schtetl und den Chassidismus, einer im 18. Jahrhundert entstandenen religiös-mythischen Volksbewegung. Scholem Alejchem beginnt 1883 erstmals auf jiddisch zu schreiben. 1890 verliert er durch Spekulationen sein gesamtes Vermögen und beginnt sich nun ganz auf das Schreiben zu konzentrieren. Nach Pogromen verlässt er 1905 das Land und siedelt schließlich in die USA über, wo er 1916 stirbt.

Scholem Alejchem hat mit seinem Hauptwerk Tewje, der Milchmann der ostjüdischen Welt mit ihren untergegangenen Archetypen ein Denkmal gesetzt. Hinter dem privaten Schicksal Tewjes und der Schtetl-Idylle von 1900 zeichnet sich schon der Wahnsinn des bevorstehenden Weltenbrandes ab, von ferne kündigen sich Revolutionen, Pogrome, Vertreibungen an. Doch Tewje stellt diesen Bedrohungen ein humanes, verschmitztes Trotzdem entgegen, ein Trotzdem des wahren Humoristen, der selbst unter Tränen noch lacht. Zugleich entlarvt er mit seinen Bibelzitaten und ewigen Fragen die Ignoranz und Intoleranz der russischen Bevölkerung, die häufig von der Regierung in die Pogrome getrieben wurde, um von den wirtschaftlichen Problem der Zeit abzulenken.

Tewje spielt im Russland des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Den Juden war es nur gestattet, in einem bestimmten Territorium (Ansiedlungsrayon) und hier wiederum nur in Städteln zu leben. Von den christlichen „Dörfern“ und den großen Städten, wie Kiew (im Roman Jehupez), waren sie ausgeschlossen. Tewje, der Milchmann ist kein Roman im engeren Sinne, sondern eine Folge von Erzählungen, die im Zeitraum von 20 Jahren entstanden sind. Jede ist in sich abgeschlossen, doch sind sie alle miteinander verbunden.

Die ersten drei Kapitel nehmen den Leser mit in die Welt Tewjes, seinen mühseligen Fahrten, um seine Erzeugnisse zu verkaufen. In den Erzählungen über seine Töchter erscheint dann eine historische Epoche voller Veränderungen. Zeitel und ihr Schneider Mottel Jackerl sind noch ganz in der Welt Tewjes verhaftet. In Hodel treten dann die revolutionären Umbrüche deutlich hervor. Pfefferl, der Ehemann, ist das ganze Gegenteil von dem, was sich Tewje von seinem Schwiegersohn erhofft hat, wartet dieser doch nicht seelenruhig auf den Messias, sondern will sich selber das Paradies auf Erden erkämpfen. In Chava tritt dann das Scheitern der Revolution hervor. Das Kapitel Spinze ist geprägt von Illusionismus, Egoismus und Entfremdung. Charakteristisch dafür, fällt Spinze auf den Hochstapler Arontschik herein und begeht Selbstmord. Das eigentlich Faszinierende des Buches ist aber sein Humor, der dank der Übersetzung nicht verloren geht. Und so bleibt Tewje, der Milchmann ein bleibendes Zeugnis einer Kultur, die aufgehört hat zu existieren.

Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann
Reclam, Leipzig
1995, 220 Seiten


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