Das Orient-Festival „Die heilenden Klänge des Universums“

Mönche aus Tibet geben neuem Konzertsaal in Pärnu/Estland die geistliche Weihe

Etwas ernüchtert stehe ich an der Kasse von Eesti kontsert im Konzertsaal „Estonia“. Es war allerdings vorher zu erwarten gewesen, dass das Gastspiel der Tibeter zum Orient-Festival ausverkauft sein würde. Doch pötzlich kommt mir ein Gedanke. Warum denn nicht nach Pärnu oder Tartu fahren. Die Mönche sind in beiden Städten an den Folgetagen ebenfalls zu Gast. So entschließe ich mich kurz und bündig, nach Pärnu zu fahren, denn dort wurde vor etwas mehr als einem Monat ein neuer Konzertsaal (Kontserdimaja) eingeweiht. Somit kann ich sowohl die Mönche, als auch die neue Konzerthalle erleben.

Einen Tag später: Der Bus überquert die mir schon seit langem vertraute Brücke über den breiten Pärnufluss und siehe da, der neue Konzertsaal leuchtet vom Flussufer herüber. Ein richtiges Schmuckstück hier in der tiefverschneiten Pärnuer Bucht. Der Fluss muss richtig zugefroren sein, die Altstadt von Pärnu ist märchenhaft erleuchtet. Es ist in letzter Zeit sehr viel passiert hier, neue Gebäude recken sich dem erleuchteten weißen Wölkchen vor tief dunkelblauem Abendhimmel entgegen. Einen kleinen Spaziergang bis zur Elisabeth-Kirche erlaube ich mir noch, doch dann wird es zu kalt, es sind immerhin über 15 Grad minus. Ich lenke meine Schritte nun zum neuen Konzertsaal, denn es wird Zeit den „Gottesdienst“ der Mönche zu besuchen.

Das Äußere des Saals und sein Inneres haben mich spontan an die 1998 in Halle/Saale eröffnete Händel?Halle erinnert. Dieser Eindruck rührt von den Bildern her, die im aktuellen Januarheft der Zeitschrift „Muusika“samt eines informativen Berichts veröffentlicht wurden. Den Saal selbst besuchend verschwindet dieser Eindruck jedoch zugunsten des eigenständigen Charakterbildes dieses ovalförmigen und gemütlich wirkenden Raumes. Aber, in der Tat, das Orgelprospekt ist sehr imposant, eckig geschnitten, so wie auch die Orgel der Georg Friedrich?Händel?Halle. So wie auch in Halle werden die „Eingeweide“ erst nach der feierlichen Eröffnung eingebaut.

Und dieser Saal in Pärnu hat, sowohl in Bezug auf seine Entstehung, als auch auf seine künftige Orgel, einige Besonderheiten aufzuweisen. Zwischen erstem Spatenstich und der Eröffnung liegen gerade mal acht Monate und zwei Wochen. Wie Igor Garshnek in der „Muusika“ treffend anmerkt: „Inimlapse „ehitamine“ emaüsas kestab teaduspärast üheksa kuud…“/“Ein Menschenkind wächst, wie man weiß, neun Monate im Mutterschoß…“

In seiner Eröffnungsrede zum Einweihungskonzert am 10. November 2002 hat der estnische Premierminister Siim Kallas die Bedeutung dieses Konzertsaales für die estnische Kultur wie folgt ausgedrückt: „Me oleme tunnistajaks ühele vägevale ettev misele…“/“Wir sind Zeugen eines gewaltigen Unternehmens…“. Die Bedeutung für Estland erkennt man auch darin, mit welcher Musik dieser Saal eröffnet wurde: Nach dem ersten Bild aus Verdis „Traviata“ (die Opernfähigkeit der Bühne testend) spielte man Tschaikowskis erstes Klavierkonzert, zu dem der Este und Klavierprofessor der Karlsruher Musikhochschule Kalle Randalu eigens aus Deutschland angereist war. Aber als letztes Werk erklang das „Sanctus“ aus Rudolf Tobias` (1873-1918) Oratorium „Joonase lähetamine“/“Des Jona Sendung“, welches 1909 in der Leipziger Andreaskirche (in deutscher Sprache und als erstes Werk dieser Gattung in der estnischen Musikgeschichte) uraufgeführt wurde und dessen kompositorische Qualität Tobias den Weg ebnete, um 1912 vom deutschen Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmer als Lehrkraft an die Berliner Musikhochschule berufen zu werden. Immerhin hatte Tobias als einer der ersten estnischen Komponisten am St. Petersburger Konservatorium Komposition bei N. Rimskij-Korsakow und Orgel bei L. Homilius studiert. Eben dieses „Sanctus“ erklang neben anderen Werken estnischer Komponisten auch bei der Eröffnung des Konzertsaales „Estonia“ im Jahre 1913 in Tallinn und rief nicht nur damals Begeisterung und Enthusiasmus hervor.

Auch die Orgel ist ein einzigartiges Instrument. Der ostfriesische Baumeister Martin ter Haseborg hat sie erbaut und er ist in Estland kein Unbekannter mehr. Er hat schon im Rahmen der Eröffnung des neuen Gebäudes der Estnischen Musikakademie 1999 in den Orgelsaal ein nicht nur akustisches, sondern auch optisches Schmuckstück aus seiner Firma eingebaut. Die aufklappbaren Flügel machen diese Orgel einem Altarbild ähnlich und bemalt hat die Flügel der allseits beliebte estnische Maler Jüri Arrak (dessen Bilder auch so manche aktuelle Notenausgabe oder CD-Broschüre estnischer Musik schmückt).

Nicht nur ist die Orgel des Pärnu Konzertsaales die zur Zeit modernste in Estland, sie kann auch als einzige in Estland „Spanische Trompeten“ (ein spezielles Trompetenregister) aufweisen. Martin ter Haseborg hat diese „Spanischen Trompeten“ so konzipiert, dass sie in zwölf Sekunden aus der Orgel herausfahren, da sie nicht vollständig in das Pfeifenwerk passen würden (bei erforderlicher horizontaler Lage und einer Länge von bis zu 2,50 m). Dies macht die Orgel auch einzigartig in Europa. Der Organist Andres Uibo, Begründer und Leiter des Tallinner Orgelfestivals, charakterisiert die Pärnuer Königin der Instrumente wie folgt: „See on rohkem arvuti kui pill“/“Das ist mehr ein Computer, denn ein Instrument.“

Die Bühne ist nach dem Prinzip der Mehrzweckverwendung ausgerichtet. Man kann einen Teil der Vorderbühne als Orchestergraben absenken und das Beleuchtungssystem ist sehr umfassend installiert, so dass wohl auch Opernaufführungen durchaus machbar sind. Der große Saal fasst 800 und der kleine Saal 200 Zuhörer.

Begeben wir uns nun jedoch allmählich in den Bann tibetischer Klostermusik. Einer Musik, die so mancher nur aus der Erzählung kennt und die ihrem Wesen und ihrer Funktion nach so weit von unserem westeuropäischen Verständnis entfernt ist. Die fünf buddhistischen Mönche des Gyumed Klosters sind zum ersten Mal in Estland zu Gast, aber sie sind nicht die ersten Mönche aus Tibet, die Estland besuchen. Schon zu einigen vorhergehenden Orientfestivals kamen Mönche aus unterschiedlichen Klostern, um ihre Gesangskunst zu zeigen. Auch der Dalai Lama hat Estland mehrfach besucht. Peter Vähi, Produzent des Orient-Festivals und Komponist elektronischer Musik, beschäftigt sich seit Anfang der 1990er Jahre mit der Kultur des asiatischen Raumes. Mit diesem Konzert wird dem neuen Saal nach dem Eröffnungskonzert quasi die geistliche Weihe gegeben.

Die Mönche des Gyudmed-Klosters sind berühmt wegen ihrer besonders tiefen, raumgebenden Stimmen, aus denen sich um so besser Obertöne abspalten können, um aus dem meist einstimmigen Gesang Mehrstimmigkeit zu machen. dabei fasziniert vor allem, dass am Ende eines jeden Abschnittes die Stimmen abfallen, d.h. tiefer und leiser werden. Dies ist bei uralten Volks- oder Ritualgesängen anderer Völker (z.B. bei finno ugrischen Völkern, zu denen die Esten bekanntlich gehören) durchaus nicht immer so (oft wird dann am Ende der Ton so forciert, dass er lauter und höher, ja sogar abgerissen wird).

Das Kloster Gyudmed` (gesprochen: gjüme) wurde 1433 in Tibets Haupstadt Lhasa gegründet. Es war seit mehr als 500 Jahren eines der bedeutendsten tibetanischen Zentren für Religion und Bildung, sogenannte „Buddhistische Universitäten“, bis 1959 das kommunistische China in kurzer Zeit tausende der Glaubenszentren zerstörte und die Mönche in die Emigration trieb. 150 Mönche des Gyudmed-Kloster flohen zusammen mit dem XIV. Dalai Lama nach Indien, wo sie ihre uralten Traditionen weiter pflegten. Heute existiert das Kloster seit 15 Jahren wieder in Tibet und aus seinen Mauern gehen Mönche als Lehrer nach Indien oder Nepal. Unter den tibetischen Gästen sind zwei Mönche in Tibet geboren, die anderen drei (sie gehören der jüngeren Generation an) wuchsen in Indien auf und lernten dort die Kunst des Gesangs und die Geheimnisse der buddhistischen Religion.

Wie nun ist dieser buddhistische Gottesdienst, so wie er in originaler Gestalt hier gezeigt wird, aufgebaut. Eigentlich dauert er bis zu drei Stunden, aber hier hat man die einzelnen Teile auf etwa eineinhalb Stunden gekürzt. Die Mönche sitzen (unter ihnen ein kunstvoller Teppich) auf weichen Kissen im Halbkreis um ein kleines rundes Tischchen, auf dem Glöckchen und kleine Pokale für die Zeremonien stehen. Im Hintergrund befindet sich ein zweites Tischchen, reich geschmückt mit farbigen Tüchern.

Erster Teil der hier in zwei große Abschnitte geteilten Zeremonie ist die Ehrerweisung für die drei geistigen „Kostbarkeiten“ Buddha, Dharma (dessen Lehre oder Gesetz) und Sangha (die Gemeinde bzw. die den höchsten Weg Entlangschreitenden). Hier sind neben den Stimmen nur die Glöckchen und die kleinen Becken zu hören, alles macht einen statischen Eindruck. Dies ist der Anfang aller Zeremonien, bei der die Betenden um Schutz bitten. Im Folgenden wendet sich das Ritual an die vier unmessbaren Gefühle – Liebe, Gemeinschaftsgefühl, Freude und Seelenfrieden -, um das Gefühl der Erweckung und Erleuchtung zu erreichen. Dabei hat diese Bitte das Ziel, helfender Weise alle Lebewesen aus dem Kreislauf von Geburt und Tod zu befreien, um sie so ins Nirvana zu führen.

Der zweite Teil ist eine Reinigungszeremonie. Als dritter Teil folgt die Gleichstellungszeremonie mit Guhyasamaja (König und Vater Tantra). Um diese erfolgreich durchführen zu können, kleiden sich die Mönche nun in königliche, dem Gott ähnliche Kleider mit einer aus fünf Teilen bestehenden und damit die Familie Buddhas symbolisierenden Krone. Vierter Teil ist die Bewunderung des (der) grünen Tara, welche den weibliche Aspekt innerhalb des Mitgefühlsprinzips darstellt und im tibetanischen Buddhismus eine der wichtigsten Gottheiten ist. Er (Sie) sitzt in der sogenannten Lotosstellung: eines der Beine ist angewinkelt, das andere berührt den Boden, als ob die Gottheit sich in jedem Moment aus ihrer Meditation erheben wolle, bereit, allen Lebewesen auf deren Bitte hin zu helfen. In der Hand hält die Gottheit drei Lotosblüten (utpala). Deren erste ist eine Knospe, die zweite eine halb geöffnete Knospe und die dritte eine vollends geöffnete Blüte. Diese Blütenstadien symbolisieren den Zustand der Buddhismus?Schüler, deren geistige Erleuchtung erst durch Übungen erreicht werden muss, diejenigen, die schon auf dem halben Wege sind und endlich diejenigen, die sich im Zustand der geistigen Erweckung und Erleuchtung befinden.

Im ersten Teil des zweiten großen Abschnittes (Tren Chol: puja bzw. Opferung) endlich werden auch die Instrumente eingesetzt, die zu den wichtigsten innerhalb der Zeremonien gehören. Dies sind in unserem Falle die schon erwähnten Glöckchen (bodhisattva); zwei Arten von Becken; eine große Handtrommel, die mit einem halbkreisförmig geschwungenen Stab angeschlagen wird; eine ein seltsames Tremologeräusch hervorbringende Handtrommel, ursprünglich wohl aus Schädelknochen bestehend, in denen zwei Bällchen sich hin und her bewegen (damaru); sowie ein langgestrecktes Horn von bis zu drei Metern Länge mit sehr tiefen Tönen (dungchen). Dazu gibt es auch (hier allerdings nicht verwendete) oboen- und cornoähnliche Blasinstrumente, die zu den am schwierigsten zu spielenden Instrumenten zählen. Man kann musikalisch streng symmetrisch aufgebaute Einheiten erkennen, wobei sich die Instrumente mit den Stimmen blockweise abwechseln.

Der zweite Teil dieses Abschnitts (Lungta (Windpferd)/Zeremonie) erklingt dann, wenn auf den Tempeln und manchmal auch auf Bergkuppen oder Brücken die farbigen Bittfahnen im Winde wehen. Auf ihnen stehen glückbringende Mantras und Bitten, von denen man hofft, sie würden den Wind, diese lesend, günstig stimmen und demjenigen Glück bringen, der sie gehisst hat. Während man Buddha, den Bodhisattvas und den Erdgeistern opfert, erstrebt man damit neben dem persönlichen Wohlgefühl auch das Gleichgewicht und die Harmonie aller Grundelemente, gleichfalls auch das Aufblühen der gesamten Gesellschaft. Hier hört man zum ersten Mal einen metrisch fassbaren, durchgehenden Rhythmus. Stimmen und Trommeln beginnen dieses Ritual, die Glöckchen treten später hinzu. Die Stimmen sind hier mit einem Male sehr viel belebter. Nach statischen und durch sogenanntes chorisches Atmen lange währenden Tönen der ersten Teile, erscheint hier mit Bewusstsein erfassbare Mehrstimmigkeit. Dies muss durch das Wirken der Obertöne kommen, oder sind es wirklich einzelne Stimmen der Mönche, die teils bis zu einer Sekunde über, teils unter dem Hauptton singen?

Diese faszinierende Zweistimmigkeit bleibt der rein musikalische Höhepunkt, denn später fällt der Gesang wieder in die Einstimmigkeit zurück (abgesehen von mikrointervallischen Abweichungen). Vorletzter Teil des Abends ist das Ritual Dageg Pungjom, das erneut einer Schutzgottheit gewidmet ist (puja bzw. Opferung). Sie ist das seltene Torchen-Ritual, wird auch Großes Torma-Ritual genannt. Ziel ist es, alle Störungen und Versuchungen fernzuhalten, mit denen ein Betender zusammentreffen kann. Hier treten die Instrumente in laute Aktion und die tiefen Klänge des Alphorn ähnlichen langestreckten Horns lassen die Wände erbeben. Hier muss ich unwillkürlich die Augen schließen, vor meinem inneren Auge erscheinen hohe Berge und weiße Schneekuppen, ähnlich der großartigen tibetischen Bergwelt. Wie muss wohl solch ein Hornklang dort Echos hervorufen? Man sagt, dass diese Hörner mit ihren tiefen Tönen auch Infraklänge aussenden, die der Mensch nicht hört, die jedoch ihre Wirkung auf Mensch und Tier haben können. Auch heißt es, diese Laute würden der Stimme des Tigers ähneln. Dies ist durchaus nachvollziehbar, wenn man dieses Horn hört. Am beeindruckendsten jedoch ist die plötzliche eintretende Stille. Nun wechseln sich die Beckenklänge mit immer länger werdenden Abschnitten von reiner Stille ab. Plötzlich wird mir bewusst, woher ich solche Klänge des Horns kenne, warum sie mir so bekannt vorkommen. Der Leipziger Komponist und gebürtige Chilene Andrés Maupoint hat sie in seinen Kompositionen verarbeitet, schon damals hatten sie mich fasziniert.

Der vierte Teil des zweiten Abschnittes ist zugleich die Abschlusszeremonie. Ihr sind Dankesworte zugrunde gelegt und die Mönche weihen alle ihre Bitten und Gebete, zugleich alle vorherigen Bitten aus der Zeremonie Bodhicitta und ihrem heiligen Dalai Lama, um ins Nirvana (dem Zustand, in dem durch Übung und Denken alle Gefühlszustände und Wünsche ausgelöscht sind, auch Zustand der Erleuchtung) zu gelangen. Damit wird eine Zeremonie beendet, die normalerweise nur einmal im Jahr abgehalten wird und die zuvor noch nicht außerhalb der Mauern des Klosters abgehalten wurde. Der neue Konzertsaal in Pärnu ist mit einer einzigartigen Zeremonie der Liebe, der Güte und des Friedens geweiht worden. Ein Tag neigt sich seinem Ende zu, der mich recht weit weg nach Pärnu, ja sogar mit den Augen, den Ohren und den Gedanken ganz weit weg nach Tibet geführt hat und dessen Klänge mich in Zukunft nicht mehr loslassen werden.

3. Januar 2003, „Estonia“ Konzertsaal, Tallinn, Eesti/Estland
4. Januar 2003, Pärnu Konzertsaal (kontserdimaja), Pärnu, Eesti/Estland
5. Januar 2003, Konzertsaal „Vanemuine“, Tartu, Eesti/Estland

Bild 1: Kopan Monastery (Kloster Kopan)
Bild 2 und 3: Pärnu kontserdimaja (Konzertsaal Pärnu)´
Ein Augen- und Ohrenzeugenbericht


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