Mit Béla Szolt kehrt ein vergessener Autor zurück
Die ungarische Literatur hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Renaissance erlebt. Da wurde die Entdeckung von Sandor Marai in den Feuilletons enthusiastisch gefeiert, legte Peter Esterhazy mit Harmonia Celestis ein Werk von Buddenbrook’schen Umfangs vor, erhielt im vergangenen Jahr Imre Kertész den Nobelpreis für Literatur zugesprochen. Die Aufzählung ließe sich noch mit Peter Nadás und János Nyiri fortsetzen. Doch die literarische Entdeckungsreise in das Land von Tokajer und Palatschinken ist längst noch nicht zu Ende. Der Frankfurter Verlag Neue Kritik hat sich jetzt der Aufgabe angenommen, das unbekannte Werk von Béla Szolt in Deutschland vorzustellen. Mit den Romanen Neun Koffer und Eine seltsame Ehe (2001) feiert ein vergessener Autor eine eindrucksvolle Rückkehr.
Zsolt – geboren 1895 – wuchs in einem großbürgerlichen jüdischen Elternhaus in Großwardein (Nagyvarad) auf. Großwardein war eine typische Stadt des Habsburgischen Imperiums mit einem Nebeneinander von ungarischen, rumänischer, deutscher und jüdischer Kultur. Niemand störte sich daran, bis der Flächenbrand des zweiten Weltkrieges und des Holocausts dem ein abruptes Ende bereitete. 1920 ging Szolt nach Budapest, wo er die Zeitschrift „Die Feder“ leitete und mit Romanen und Theaterstücken schnell eine der maßgeblichen Figuren des Literaturbetriebs wurde. Trotz eines unterschwelligen Antisemitismus in Ungarn, weigerte sich die ungarische Regierung bis 1944, die jüdische Bevölkerung der deutschen ?Endlösung? zu überantworten. Zuvor waren viele von ihnen bereits in die Ukraine zur Zwangsarbeit geschickt worden. Darunter auch Zsolt. Zwar gelang es ihm, nach Budapest zurückzukehren, doch warteten dort bereits Gefängnis und später das Ghetto. Der Deportation entging Szolt nur knapp und mit viel Glück: Er gehörte zu den eintausendfünfhundert Juden, die durch die „Kasztner-Aktion“ im allerletzten Moment noch freigekauft werden und Ungarn verlassen konnten.
Neun Koffer erzählt von Szolts Erlebnissen im Ghetto in Großwardein, der Zwangsarbeit, den Demütigungen, den Strapazen und dem Tod, täglich vor Augen. Auszüge erschienen wöchentlich in der Zeitschrift „Fortschritt“, in der Szolt gegen wieder aufkeimenden Antisemitismus, die Korruption und die Macht der Kommunisten eine klare Stellung bezog. Gezeichnet von Krankheit blieb der Roman unvollendet und wurde erst 1980 in Ungarn veröffentlicht. Szolts Geschichte ist abenteuerlich zu nennen. Eigentlich schon in Sicherheit, bereitet er seine Flucht aus Paris vor. Sogar die Tickets für die Schiffspassage waren schon reserviert. Allein seine Ehefrau konnte sich nicht von ihren Koffern trennen. Genau neun an der Zahl. Der einzige Zug, der aber noch so viel Gepäck transportierte, fuhr nicht in Richtung Freiheit, sondern nach Budapest. Drei Tage nach ihrer Ankunft besetzten die Deutschen die Stadt.
Der Zwangsarbeit in der Ukraine entkommt Szolt nur Dank seiner guten Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten. Doch schon kurz nach seiner Rückkehr wartet das nächste Unheil auf ihn. Das Ghetto von Großwardein. Die Erinnerungen Szolts sind eindrucksvolles Zeugnis des Holocausts. Gerade die geringe zeitliche Distanz des Schreibens zu seinen Erlebnissen im Ghetto verleihen dem Buch eine Dramatik, der sich der Leser nicht entziehen kann. Auf der Fahrt nach Budapest berichtet er von Ungarinnen, die in Bordelle verschleppt wurden. Wurden sie schwanger, war das ihr Todesurteil. Zum Selbstmord zu schwach, den Tod vor Augen, bat eine Frau um ein deutsches (!) Buch. Nur zu dick sollte es nicht sein, denn in wenigen Tagen setzten die Wehen ein…
Szolt gelingt eine eindrucksvolle Beschreibung vom täglichen Ausharren, dem Schwanken zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Er vermeidet dabei jegliches Moralisieren, sondern notiert all die menschlichen Absonderheiten, die in einer solchen Situation auftreten. Béla Szolts Roman Neun Koffer steht damit in einer Reihe mit den Erinnerungen von Primo Levi, Jorge Semprun oder Ruth Klüger. Nun sind dem Autor nur noch die Leser zu wünschen, die er verdient hat.
Béla Szolt: Neun Koffer
Aus dem Ungarischen von Angelika Máté
Mit einem Nachwort von Ferenc Kszeg
Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main, 1999
393 Seiten, 25 €
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