Lob der Kleinbürgerlichkeit

Stars als Reiseführer: Meret Becker und das ensemble amarcord auf „american journey” im Grossen Concert

Alle Jahre wieder darf das Gewandhauspublikum amerikanische Filmmelodien im Gewandhaus erleben, durchsetzt mit einem Hauch von Showbusiness und Patriotismus. Der Mann der Stunde ist dann John Mauceri, der smarte und immer wie frisch aus dem Ei gepellte Amerikaner, der neben seiner Dirigententätigkeit auch vielversprechende Ansätze zum Showmaster zeigt, wenn er mit kleinen Moderationen durchs Programm führt.

Doch diesmal ist alles anders, denn die Amerikanische Reisebeschreibung im ersten Teil des Konzertes stammt aus der Feder von Bert Brecht. Und Kurt Weill schrieb eine herrlich ironische Musik dazu. Zudem ist mit Meret Becker ein Publikumsliebling zugegen und auch das ensemble amarcord hat keine Mühe, die Ränge zu füllen.

In der Tat sind die „Sieben Todsünden“ eine amerikanische Reise. Die beiden Schwestern Anna, zwei Seelen in der Brust eines Mädchens aus nicht reichem, aber gutem Hause („Wir sind eigentlich nicht zwei Personen, sondern nur eine einzige“), werden auf weite Fahrt durch die Staaten geschickt, um Geld zu verdienen für „ein kleines Haus in Louisiana“. Dabei gilt es, die „Sieben Todsünden“ der Menschlichkeit abzulegen, alle Eigenschaften also, die dem Geldverdienen im Weg stehen. Darüber wacht die Familie in Form eines Männerquintetts (Mutter: Bass), dessen Blicke und allgemeingültigen Kommentare („Müßiggang ist aller Laster Anfang“) als Über-Ich des Kleinbürgertums die beiden Annas auf Schritt und Tritt verfolgen.

In Memphis lernt Anna ihren Stolz überwinden, indem sie statt ihrer Kunst ihren Körper zur Schau stellt, in Los Angeles überwindet sie den Zorn, duldet Gemeinheit, um selbst geduldet zu werden, in Boston überwindet sie die „Unzucht“, lässt sich lieber aushalten, als eine Liebe, die viel kostet, auszuhalten u.s.w. Und wenn sie am Ende auch den Neid überwindet auf diejenigen, die in Sünde vor dem Wohlstand gefallen sind, auf die „törichten Leute, denen es nicht vor dem Ende bangt“, dann wartet als Lohn ein kleines Häuschen in Louisiana, das Lebensglück der tüchtigen Familie.

Brechts Text und Weills Musik sind eine bitterböse Apotheose auf das Spießertum. Weill bedient sich dazu eingängiger Melodien und Rhythmen, die jedoch harmonisch immer etwas schräg geraten, als seien sie angesägt und würden jeden Moment in sich zusammenbrechen. Ein wunderbares Beispiel dafür, wie satirisch Musik sein kann und eine dankbare Aufgabe für jeden Interpreten, der das Komische mit dem nötigen Ernst angeht.

Die Sänger des ensemble amarcord, die leider nur zu viert antraten, beherrschen ihr Metier so meisterhaft, dass ihr Part zu einer Paraderolle wurde. Wenn die Familie die Völlerei brandmarkt („Sie hat einen Kontrakt als Solotänzerin; / Danach darf sie nicht mehr essen, / was sie will … / Das wird schwer sein für Anna, / denn sie ist doch so sehr verfressen.“), so wird daraus regelrecht ein Streifzug durch die Geschichte der Sangeskunst. Von liturgischen Chorälen über Madrigale bis hin zum gitarrenbegleiteten Sololied kosten die Herren die Genremalerei bis ins letzte Detail aus.

Dagegen war Meret Becker, die singende Schauspielerin, ein wenig enttäuschend. Das hatte verschiedene Gründe. Einmal war das Mikrophon nicht gut genug austariert, so dass sich ihre zarte Stimme meist nicht gegen das Orchester durchsetzen konnte. Hier hätte auch der Dirigent an einigen Stellen die Musik etwas mehr zurücknehmen müssen. Dann presste sie ihre in höchster Lage singende und sprechende Stimme meist in einen unnatürlichen Klang, wohl um eine Mischung aus Naivität und Laszivität zu erreichen.

Was gar nicht nötig gewesen wäre. Denn wie sie so dasteht, barfuß, im schlicht übergeworfenen Kleid, mit sehr nuancierter und dezenter Mimik und Gestik, ist sie einfach hinreißend. Wenn sie unverstellt und natürlich singt, erinnert sie trotz der fehlenden Stimmkraft etwas an Lotte Lenya. Im Grunde ist ihre Darstellung der Anna als naives, verführerisches und zugleich auch schüchternes Mädchen ein idealer Ansatz für die Rolle. Doch wenn sie sich, in nicht immer konsequenter Ausreizung der schizophrenen Doppelrolle, dann in einem rauchigen Krächzen räkelt, hält die musikalische Ausstrahlung der theatralischen nicht mehr stand. Das ist deshalb schade, weil es unnötig ist. Ihre sprachliche Gestaltungskraft ist so plastisch, dass kleinste musikalische Nuancierungen ausgereicht hätten, um ein Maximum an Ausdruckskraft zu gewinnen.

Und dennoch. Getrost lässt sich behaupten, dass mit diesem Stück und diesen Interpreten mehr gewonnen wurde, als die Zusammenstellung mit den anderen Werken des Abends verdient gehabt hätte. (Nichts gegen Filmmusik, aber neben diesem Weill wirken die Klänge aus Hollywood irgendwie kleinbürgerlich.)

American Journeys

– Kurt Weill/Bert Brecht „Die sieben Todsünden“
– amerikanische Filmmelodien

Gewandhausorchester, Dirigent: John Mauceri

Meret Becker, Sopran
ensemble amarcord

11. Januar 2003, Gewandhaus, Großer Saal

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