„Auszeit”, ein außergewöhnlicher Film von Laurent Cantet (Anja Szymanski)

Auszeit (L´emploi du temps)

„Feinfühlige Studie eines Furcht einflößenden Selbstbetrugs, die die Krise des Mittelstands vor dem Hintergrund zunehmender Globalisierung spiegelt. Der nach einer wahren Begebenheit inszenierte Film besticht durch den Hauptdarsteller sowie die ausgewogene Wechselwirkung von emotionaler Kälte und Selbstentfremdung.“ (bsnet)

Schaubühne Lindenfels, Premiere
Frankreich 2001 – 128 Minuten
Regie: Laurent Cantet (Ressources humaines, 1999)
Kamera: Pierre Milon
Drehbuch: Robin Campillo, Laurent Cantet
Besetzung: Aurelién Recoing, Karin Viard, Serge Livrozez, Jean-Pierre Mangeot
Außerhalb der Zeit

„Du hast uns verarscht“, sagt Julien zu seinem Vater, als alles herausgekommen ist und „hau ab“. Aber für euch hat sich doch nichts verändert, ihr habt doch alles erhalten, was ihr brauchtet, meint der Vater und versucht, den steifen Jungenkopf zu umarmen. Aber Julien ist schon groß und seine Arme hängen schlaff nach unten. Die ersten Tränen im Film fließen, doch Muriel und die beiden Kleinen stehen genauso steif da und starren ihn an – einen Fremden. Bleischwer sinkt er auf einen Sessel: „Lasst mich doch in Ruhe, ich bin müde, ich muss mich ausruhen. Ihr wisst gar nicht, wie müde ich bin. Ich kann diese Woche nicht arbeiten.“

Dabei hat Vincent schon wochenlang keine Arbeit mehr, und keiner wusste es. Tagsüber unternahm er Autofahrten, irgendwohin, verbummelte die Zeit in Gaststätten und Rastplätzen, um von unterwegs Muriel anzurufen und auszurichten, wie anstrengend die Arbeit heute wieder sei und mit wie vielen potentiellen Geschäftspartnern er sich noch zum Essen treffen muss. Sie bräuchte nicht auf ihn zu warten. Und außerdem würde er bald eine neue Stelle haben, in der Schweiz, bei der UNO. Sie wären zwar die Woche über getrennt, aber am Wochenende würde er stets nach Frankreich kommen. Das neuverdiente Geld könnten sie doch sicher gebrauchen.

Und so beginnt ein alltäglicher Thriller. Vincent fährt tatsächlich jede Woche in die Schweiz, nach Genf. Adrett und sich selbstbewusst gebend, gammelt er im UNO-Hauptgebäude herum, lediglich in seinem geschäftsmäßigen Verhalten den anderen, den wirklich Tätigen, angepasst, bis er vom Wachdienst rausgeworfen wird. Er schläft im Auto, unternimmt Wanderungen und fährt entspannt in die Berge. An den Wochenenden ist er in seinem Zuhause herzlich willkommen und wegen seiner verantwortungsvollen Arbeit vor allem von seinen gutbürgerlichen Eltern hochgeachtet. Zwar reagiert er ungehalten, wenn sich Fragen zu seiner Tätigkeit häufen oder gar Widersprüche oder Ungereimtheiten in seinen Äußerungen auftauchen, aber der Vater lobt und bewundert ihn. Nur die Sache mit dem Geld ist problematisch. Irgendwie muss er das scheinbar Verdiente auch vorzeigen können. Und so erhält er vom Vater einen gutgemeinten Kredit für eine (nicht existierende) Eigentumswohnung in Genf und zockt alten Bekannten und Freunden mit gewieften, geschniegelten Geschäftsmethoden das ersparte Geld ab, um den Lebensstandart der Familie zu erhalten. Bald hat Vincent auch ein neues Auto, wie es sich für ein gewichtiges Mitglied der Arbeitswelt gehört. Die Schlinge um seinen Hals zieht sich immer weiter zu. Der Kinobesucher merkt es früher als Vincent, der ein Meister der Verdrängung ist.

Der Betrachter erfasst den Blick des Regisseurs Laurent Cantet, weniger einen mitleidigen, sentimentalen Blick, eher den der abwartenden Neugier der Außenwelt. Das macht die beklemmende Authentizität des Filmes aus. Der Betrachter spürt selbst das Grauen und die Hilflosigkeit, die alle Außenstehenden bei einer sich ankündigenden Tragödie spüren. Vincent, unfähig, sich seinen Liebsten anzuvertrauen, obwohl Gelegenheit dazu besteht, versinkt im totalen Realitätsverlust. Die Zukunft existiert nicht, die Vergangenheit nur als lästiger, abzuwerfender Ballast. Die kühle, glatte Kamera, so glatt wie Vincents Erscheinungsbild, nimmt die fast kindische Freude an jedem irreversiblen Durchhaltemanöver in Vincents Spinnennetz der totalen Vereinsamung auf.

Was ist schlimm an der Wahrheit? Was ist so schlimm daran, der Familie zu gestehen, vom Arbeitgeber gefeuert und aus dem sozialen Gefüge verstoßen worden zu sein? Es ist nicht die Stärke des französischen Kinos, Ursachenforschung zu betreiben. So bleibt das Außenfeld der Familie und Bekannten fast zu wenig reflektiert. Muriel ist tolerant, liebevoll etc. und der Vater ist zwar fordernd, aber nicht ungerecht oder übermäßig zurechtweisend (wunderbare Gesichter aller Akteure!). Zwar wird die Dominanz des Vaters und die Harmoniesucht der Mutter angedeutet. Aber „Auszeit“ konzentriert sich ganz auf Vincents seelischen Zustand, mit Recht. Denn jemand, der unfähig ist, sich mit anderen auseinanderzusetzen und im innersten Wesen allein von der Angst vor dem sozialen Abstieg beherrscht wird, ist in sich gefangen. Vincent kann nicht mit der Geschwindigkeit des normalen Arbeits-Lebens mithalten. Braucht es dafür Gründe? Seine Energie reicht gerade aus, um mit der normalen Geschwindigkeit des Lebens den momentanen Selbstbetrug auszufüllen, eine zeitlang nur, dann ist die Kraft verbraucht.

„Einen Arbeitslosen zu zeigen, der unter seiner Situation leidet, würde ganz selbstverständlich akzeptiert werden, weil es ja auch einer Realität entspricht. Einen Arbeitslosen zu zeigen, der eigentlich ganz zufrieden ist, ist dagegen ein Schock. Schon während ich das Drehbuch schrieb, gab es darüber heftige Debatten. Etliche Leute sagten mir auch, dass sie dieses Happyend nicht verstünden. Dabei ist es für mich kein Happyend, nur weil jemand, der wieder Arbeit findet, automatisch als Gewinner gilt – das wollen viele nur nicht hören.“ „Ich habe der Arbeit gegenüber eine ambivalentere Position, als man zunächst wahrzunehmen glaubte. Auszeit beschreibt jemanden, der das Recht fordert, sich anders als über seine Arbeit zu definieren. … und ich nehme auch eine gewisse Ablehnung gegenüber der Idee wahr, dass Arbeit nicht notwendigerweise eine Erfüllung ist.“

Er ist einer dieser Menschen, die vollkommen mit ihrer Umgebung verschmelzen, und Aurélien Recoing spielt Vincent als perfektes Chamäleon, sagt Regisseur Laurent Cantet über seine Hauptfigur. Tatsächlich gelingt dem Darsteller eine furchteinflößende Fusionierung mit der Rolle. Als Zuschauer möchte man ihn von der Leinwand herunterziehen, ihn umarmen, trösten und Halt geben. Die Länge des Filmes (130 min) stört nicht, ist ein äußeres Abbild davon, dass der Weg zum sozialen und psychischen Absturz ebenso lange dauert wie das dunkle emotionale und intellektuelle Chaos, welches daraus folgt. Denn Vincent haut wirklich ab, rennt davon, als die Situation kulminiert und verliert sich im Ungesagten.

Obwohl Vincents Vater („Es ist alles nicht so schlimm, Vincent. Über Geld können wir doch reden, Vincent.“) ihn durch eine neue lukrative Stelle vor dem sozialen Aus rettet, gibt es kein Happyend. Überforderung auf einer noch höheren Ebene ist garantiert. Ab sofort ist er ein Mann, der, um nicht ins absolute Abseits zu geraten (Irrenhaus?), nur noch besser funktionieren muss.

Die spannungsgeladene filmische Kühle spiegelt genau die Distanz der Gesellschaft (Zuschauer) zum sozial versagenden Menschen. Der Betrachter reagiert unsicher auf Vincents perfekt inszeniertes Spiel nach Außen und bagatellisiert seinen verletzten Seelenzustand. Er verdrängt voller Furcht die Gewissheit der Katastrophe einerseits und ist andererseits verwundert über den „glimpflichen“ Ausgang (also kein Selbstmord oder Unfall). Der glimpfliche Ausgang aber ist ein von nun an Jahre währendes Schlingern in der gleichen Situation wie vor der Katastrophe. Es hat sich nichts verändert. Wie denn auch.(Anja Szymanski)

Zitate von Laurent Cantet

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