Film in Leipzig: „Sein und Haben” (Être et avoir) von Nicolas Philibert (Anja Szymanski)

„Sein und Haben“ (tre et avoir)
Passage Kinos

Frankreich 2002, O.m.U.
Regie: Nicolas Philibert
Mit: Georges Lopez und seinen Schülern Olivier, Guillaume, Jonathan, Laura, Laetitia, Alizé, Jojo, Nathalie, Jessie, Axel, Johann, Marie und Julien

Europäischer Dokumentarfilmpreis 2002 – Prix Arte
Ja, Herr Lehrer

„Und dann kurz vor den Ferien zu Allerheiligen besuchte ich diese Schule in diesem Dorf des Puy-de-Dôme, mitten im Herz des Livradois Forez Saint-tienne sur Usson. Innerhalb einer Viertelstunde war ich mir sicher, gefunden zu haben, was ich suchte.“ Nämlich einen Lehrer, dreizehn Kinder zwischen fünf und elf Jahren und ein Klassenzimmer. Glaubt man den Einheimischen, so gibt es in Frankreich noch überall Schulen, die nur aus einer einzigen Klasse bestehen. Da rumpelt ein fleckiger, wackeliger Schulbus morgens über die einsamen Strassen zu den stillen Gehöften, öffnet seine Türen und verschluckt die noch schlaftrunkenen Kleinen, deren Mütter auf den abgerissenen Bauernhöfen zurückbleiben. Im Schulzimmer angekommen, erwartet die Kinder eine andere, eine sich öffnende Welt, hell und fordernd, und im Winter einer warmen Stube gleichend. George Lopez ist seit 35 Jahren Lehrer. Er blieb und seine Schüler kamen und gingen. Wie sollte ein Lehrer sein, dessen Schüler heute gern bei ihm bleiben und später genauso gern gehen? Etwa so wie George Lopez, der den Kindern mit seinen gütigen Augen und der unsentimentalen Art alles in einem ist: Autoritätsperson, Vater und Mutter, Freund und Bruder. Dem andererseits der Spagat gelingt, seine eigene Person gänzlich zurückzunehmen, diese aber dennoch vollständig in den Schultag einzubringen hat. Dem alle Kinder bedingungslos vertrauen.

Nicolas Philibert und sein Team drehten von Dezember 2001 bis Juni 2001 einen überaus leisen Dokumentarfilm, der an keiner Stelle einer Dokumentation bedarf. Als Anwesende „unsichtbar“ im Klassenzimmer waren sie zur Distanz und zum puren Beobachten angehalten. Und sie beobachteten die wahrhafte Intensität der zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen der Kinderzeit, gereinigt von allen Ablenkungen und Reizen einer aufregenderen Umgebung, beispielsweise der Großstadt. Gerade wegen der geringen Schülerzahl in der einzig bestehenden Schulklasse und der Isolation der Auvergne gelang ein poetischer Blick auf die unidyllischen Verquerungen des persönlichen Lebens, die auch im Idyllischen heimisch sind, und die sich wohl überall durchsetzen.

Die nach innen gekehrte, ungelenke Nathalie, die nicht Mathe kann, spricht mit niemandem. Ihre Mutter wundert und ärgert sich darüber, sie selber ist doch auch pfiffig und hat im Leben einiges geschafft. Der kräftige Guillaume hat zu Hause manchmal Schwierigkeiten bei den Rechenaufgaben. Oft verhaspelt er sich. Er konzentriert sich nicht. Mit kurzen und heftigen Schlägen verhilft ihm die Mutter zu den richtigen Lösungen. Guillaume hat außerdem Schwierigkeiten mit Olivier, der sich immer (immer!) verletzt fühlt durch Guillaumes harte Griffe bei den Spielen in der Pause. Dass Olivier ihm das einmal gestehen darf, ist einer ruhigen und liebevollen Aussprache mit dem Lehrer gedankt, der Oliviers Tränen hinter den vorgehaltenen Händen ebenso geduldig erträgt wie Guillaumes Geniertheit. Olivier, der eigentlich lieber lacht und selten von sich spricht, kann auch den diskretesten, gutmütigsten Lehrer an die eigenen Grenzen bringen. Denn dieser kann Olivier nur hilflos versichern, stets für ihn da zu sein, egal, was seinem krebskranken Vater je passiert.

Mit unverbrauchter Sanftheit zeigt Philibert, dass einige der Kinder ihr Päckchen schon zu tragen haben und dass es wohl noch lange dauern wird, es loszuwerden. Nathalie, Guillaume und Olivier, alle drei werden bald die Dorfschule verlassen, das Collége besuchen und sich durchsetzen müssen. Die selten eingestreuten Blicke auf das elterliche Heim unterstützen unsere verdrängte Ahnung, daß es nicht einfach ist, ein Kind zu sein. „Was mich angeht, ich sehe sogar etwas Düsteres, eine latente Gewalt in dem Film, auch wenn sie unterdrückt bleibt. Bevor ich diesen Film drehte, hatte ich wohl vergessen, wie schwer es ist, zu lernen und aufzuwachsen. Dieses Eintauchen in das Schulleben zwang mich wieder, mich zu erinnern. Das ist wahrscheinlich das eigentliche Thema des Films.“ Hier erübrigen sich Diskussionen um Schulmodelle und alternative Lehrmethoden. Wo es nicht anders geht, unterrichtet ein Mann simultan Kinder verschiedenen Alters. Sind die Großen beim Rechnen, müssen die Kleinen ruhig beschäftigt sein. Sie müssen unbedingt leise sein, erst danach ist der „Lehrer“ wieder ganz für sie da. Nicht nur, um ihnen das Lesen beizubringen. Manchmal muß gemeinsam ein Kuchen gebacken werden (mit viel Gematsche). Eine lustige Schlittenpartie gehört ebenso dazu wie der Ausflug in die wogenden Felder im Frühling.

Er sei wohl altmodisch, meint George Lopez von sich. Dann aber ist das Altmodische auch wiederum das Moderne. Als Zuschauer wird uns wieder einmal klar, daß es so wenig ist, was Kinder wirklich brauchen. Nur Jemand, der für sie da ist, der unbedingt zu ihnen hält und ihnen dadurch Halt gibt, um sie dann gestärkt loszulassen. Denn wo gibt es das noch, daß der Lehrer „Herr Lehrer“ heißt, daß jedes einzelne Kind am letzten Schultag geküßt und mit Tränen in den Augen in die ungewisse Zukunft entlassen wird?(Anja Szymanski)

Zitate von Nicolas Philibert

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