Dan Tsalkas „Tausend Herzen“ ist ein bildgewaltiger Roman
Der Hafen von Odessa im November 1919. Die Ruslan legt Richtung Palästina ab. An Bord des Schiffes befinden sich fast siebenhundert Personen. Für maximal sechzig Passagiere ist es gebaut. Schriftsteller, Maler, Journalisten und Architekten kauern an Bord, um in Ere’z Israel ein neues Leben zu beginnen. Davor gilt es aber für die kranken und hungrigen Menschen, die Schiffspassage mit Stürmen zu überstehen. Nach einem Monat des Hoffens und unzähliger Stoßgebete erreicht die Ruslan den Hafen von Jaffa.
In dieser Zeit lebten weniger als sechzigtausend Juden in Palästina. Die Ruslan beförderte also nicht weniger als ein Prozent der jüdischen Bevölkerung, die eines verband: Die Errichtung eines zionistischen Staates auf den Grundfesten von Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit. Mit Blick auf den gegenwärtigen Zustand der politischen Situation in Israel scheint dieser Traum aber eher eine Illusion zu bleiben. Die Ruslan hat es tatsächlich gegeben und nimmt bis heute einen wichtigen Platz im kollektiven Gedächtnis der Juden Israels ein.
Mit seinem Roman Tausend Herzen, der bereits 1991 in Israel erschienen ist, schreibt Dan Tsalka nicht weniger als die Gründungsgeschichte des Staates Israel. Tausend Herzen beginnt mit der Ankunft von Ezra Marinksy, einem Architekten, der einer der Gründerväter von Tel Aviv werden soll. Dazwischen entfaltet Tsalka ein solch vielstimmiges Kaleidoskop an Figuren und Geschichten, Träumen und Enttäuschungen, dass der Leser schon einmal die Orientierung verlieren kann. Es endet nach fast tausend Seiten, als Israel den Sechstagekrieg gewonnen und zu einigem Wohlstand gelangt ist, mit der Abreise von Marinskys Tochter Madi nach London. Nur so glaubt sie, sich vom allmächtigen Schatten des Vaters lösen zu können.
Dem Roman geben vier Termini aus der italienischen Renaissance den Rahmen. Im ersten Abschnitt, dem pensiero, was erster Entwurf oder Skizze bedeutet, werden die Grundzüge des Werkes entworfen werden. Wie ein Maler wirft Tsalka mit geübter Hand seine Figuren und Anekdoten auf den ersten dreihundert Seiten. Der zweite Abschnitt ist mit schizzo überschrieben. In der Malerei werden in dieser Phase der Arbeit bestimmte Teilbereiche und Einzelaspekte herausgestellt, wie die eingängig-charmante Episode vom biblischen Zoo, die als Parabel für das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern stehen kann. Ein deutscher Zoologe namens Brunner hat die Idee, in Tel Aviv einen Zoo zu gründen, der alle Tiere versammelt, die in der Bibel genannt werden. Zusammen mit Kalman Oren, seinem Mitarbeiter, der mit der Ruslan ins Land gekommen war, wollen sie eine aberwitzige Idee verwirklichen: Wolf und Schaf sollen ein Gehege miteinander teilen. Nach einem Unwetter sind beide Tiere tot, was vor allem die Ultraorthodoxen beruhigt, die das Projekt als Gotteslästerung verteufelten.
Im studio, wie der dritte Teil überschrieben ist, geht es in der Malerei vor allem darum, den Entwurf an der Natur zu überprüfen. Wie schon im ersten Abschnitt fügt Tsalka Anekdote an Anekdote. Aber diese scheinbar autarken Episoden sind in der Gesamtheit wie ein Lexikon der israelischen Geschichte, das man immer wieder an verschiedenen Stellen aufschlagen kann, um vielleicht nur ein paar wenige Seite zu lesen. Die letzte Stufe des Entwurfs in der Malkunst wird als disegno bezeichnet, wie auch der vierte und letzte Teil überschrieben ist. Tsalka führt hier das Schicksal der Einwanderer in die Gegenwart. Marisnkys Tochter und Freund werden zu den zentralen Figuren. Für sie stellt sich nun immer häufiger die Frage des Bleibens oder Gehens. Zumindest Marinskys Tochter findet darauf eine eindeutige Antwort, als sie das Flugzeug Richtung London besteigt. Eindrucksvolle Worte beschreiben die physische und psychische Abkehr von vielen Hoffnungen und Enttäuschungen: „Sie war frei! Frei für immer! Leb wohl, Heiliges Land!“
Eines allerdings suchte man auf den fast tausend Seiten vergeblich: Bei der Lektüre konnte man den Eindruck gewinnen, dass die russischen und all die anderen Einwanderer die ersten Siedler gewesen sind. Wo sind die, die auf ewig, auf Gedeih und Verderb mit der Geschichte von Ere’z Israel verbunden sein werden. Wo sind die Araber, heute Palästinenser genannt. Abgesehen von Beschreibungen, die dem Orientbild des 18. und 19. Jahrhunderts entsprachen („in schlampigen, abgewetzten Röcken“), blieben sie bei Tsalka unsichtbar. Vielleicht liegt darin aber eines der Grundübel, warum dieser Konflikt so verfahren ist. Die irrige Annahme, dass der andere gar nicht existiert oder irgendwann von allein wieder verschwinden wird. Trotzdem: Tsalkas bildgewaltiger Roman ist eines der Bücher, das man nach Arno Schmidt mindestens zweimal gelesen haben muss, um sagen zu können, dass man es gelesen hat. Nun denn.
Dan Tsalka: Tausend Herzen
Aus dem Hebräischen von Barbara Lindner
Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2002
952 Seiten, 39,90 €
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