Ruinen schaffen ohne WaffenBernd-Lutz Lange liest aus „Magermilch und lange Strümpfe“ und beschert dem Publikum einen vergnüglichen Abend

Robert Schumann, Max Pechstein, Gerd Fröbe und der Trabant, auch liebevoll „Gehhilfe aus Zwigge“ oder „überdachte Zündkerze“ genannt, haben eins gemeinsam: Sie kommen aus Zwickau. Eine Stadt mit großen Söhnen also, und so wundert es nicht weiter, dass auch der Kabarettist und Autor Bernd-Lutz-Lange ? academixer-Mitbegründer und inzwischen deutschlandweit bekannt – von dort stammt und so einiges zu berichten hat.

Magermilch und lange Strümpfe ist der programmatische Titel seines 1999 veröffentlichten Buches: Der Erlebnisbericht einer Jugend im Nachkriegsdeutschland, voll mit amüsanten und anrührenden Erinnerungen in Anekdotenform, ideal also für eine Lesung vor einem gemischten Publikum mit breit gefächerten Erwartungen an den Abend.

Jung und alt haben sich im UT Connewitz versammelt, und der Ort könnte nicht besser gewählt sein: Der raue Charme des 1912 erbauten Kinos mit seiner verschwenderisch schönen Architektur, dem abbröckelnden Putz, den zerschlissenen Vorhängen und den engen Sitzreihen schafft die richtige Atmosphäre für das Nacherleben einer Zeit, in der der Mainstream noch nicht geboren war und das durchschnittliche Kind an die hundert Spiele kannte, wie Lange später stolz berichten wird. Perfekt macht die (n)ostalgische Kulisse der vor Beginn der Lesung gezeigte Schwarzweiß-Film, der mit verwackelten Bildern, aber großer Eindrücklichkeit auf die finanzielle Notlage des UT und die Existenzbedrohung des Independent-Kinos aufmerksam macht. Das UT Connewitz wegen Baufälligkeit aufzugeben, wäre ein großer Verlust für Leipzig, und wer an Veranstaltungen oder Unterstützung interessiert ist, sollte sich die Homepage www.utconnewitz.de zu Gemüte führen. Es zeigt sich, was später auch aus dem Buch hervorgeht: Die Vergangenheit sollte ein Sprungbrett sein, kein Sofa.

Nachdem sich Lange etwas verspätet auf der Bühne einfindet (er musste sich wegen der Kälte im Kino noch einen Extra-Pullover holen) und es sich mit einer Flasche Bier („Wasser stößt auf, Cola klebt – man muss immer Bier trinken!“) am Tisch bequem gemacht hat, nimmt er auch schon das Publikum mit auf eine Reise in die Vergangenheit: Dresden im Februar 1945, Langes Mutter mit dem neun Monate alten Bernd-Lutz im Luftschutzbunker, ein Leben lang traumatisiert von den Bombenangriffen; die Flucht zurück nach Zwickau; der Kamerad, der „Macht der Gewohnheit“ immer noch mit „Heil Hitler“ auf den Lippen in den Tante-Emma-Laden kam – nicht alles ist lustig, was in Magermilch und lange Strümpfe steht, aber das soll es auch gar nicht sein. Eine Zeit voller Widersprüche wird geschildert, und wie Bernd-Lutz Lange das macht, ist herrlich: Mal gemütlich sächselnd, wenn er seine ehemaligen Mitschüler beschreibt, dann genüsslich schmatzend beim Imitieren seines alten Lehrers („Mein Chemielehrer war farblos wie ein Gas, und ich machte mir einen Spaß daraus, die Aufzählung der Gase etwas zu erweitern: Methan, Ethan, Propan, Butan, Satan…“), um anschließend beim Rezitieren eines DDR-Gedichtes („Mein Bruder ist ein Traktorist“) in einen spöttisch leiernden Ton zu verfallen.

Geschichten wie die vom Opa, der Bäcker war und bei einer Edeka-Plünderung einen Zentnersack Zucker nach Hause schleppte, um dort festzustellen, dass es Salz war, leben von der detailgenauen Schilderung Langes, dem es gelingt, sogar die Kartoffelkäferplage in den 1950er Jahren zum Erlebnis zu machen: Die Jungpioniere waren dazu abkommandiert, die Käfer auf den Feldern einzusammeln, und Gesprächsthema Nummer 1 war die Herkunft des Ungeziefers: Die Jungen nahmen an, die gefürchteten Amerikaner wären schuld (auf allen Warnflugblättern waren die Käfer mit „Kapitalistengesichtern“ abgebildet) und hätten mit geheimen Waffen die Tiere auf die deutschen Kartoffeln geschossen – welch eine Technik! Auch die langen Strümpfe werden thematisiert („aus brauner, fürchterlich kratzender Wolle“), und es ist eine besondere Leitung des Autors, dass sowohl die Nachkriegsgeneration in Erinnerungen versetzt wird als auch die zahlreichen Jüngeren im Auditorium ihren Spaß an den lebendigen Schilderungen und Skurrilitäten haben.

Als Lange sich dann am Ende seiner Lesung – er hatte zwischendurch kurze Passagen aus seinem älteren Buch Dämmerschoppen zum Besten gegeben – noch dazu hinreißen lässt, einige sächsische und jüdische Witze aus seinem schier unerschöpflichen Repertoire zu erzählen, hat er seine Fähigkeiten als Entertainer auch außerhalb des Kabaretts endgültig unter Beweis gestellt und kann sich sicher sein, jedem Anwesenden einen vergnüglichen und erinnernswerten Abend bereitet zu haben. Und eben dieser gleichzeitig sentimentale und spöttische Blick auf Ostdeutschland („Ruinen schaffen ohne Waffen war das Motto in der DDR“) ist es, was Magermilch und lange Strümpfe zu einem ganz besonderen Zeitzeugnis macht.

Bernd-Lutz Lange liest aus Magermilch und lange Strümpfe

01.02.2003, UT Connewitz

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  1. Soeben habe ich Ihr Buch „Magermilch und lange Strümpfe gelesen. Ich habe selber ein Dialektbuch geschrieben aus der gleichen Zeit von der Schweiz, Ich bin begeistert von den Gleichheiten, zum Glück bei uns ohne Krieg.

    Den Dialekt von Ihnen verstehe ich noch zum Teil . Meine Grossmutter kam von Weissenfels bei Leipzig.

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