Entstaubte Lieblinge

Jirí Belohlávek und Sarah Chang geben „Romeo und Julia“, Bruch und Mussorgski im Grossen Concert

Einfach schön! Ob Jirí Belohlávek mit diesem Konzertprogramm ein besonderes Risiko eingegangen ist? Wohl kaum. Gleich drei Wunschkonzertklassiker an einem Abend : kann das mehr hergeben als bestenfalls exquisite Routine, mit einem vollen Saal als erfreulicher Begleiterscheinung? Zurücklehnen und genießen? Was Belohlávek jedoch aus vermeintlich totgespielten Meisterwerken herauszuholen vermag, stellte er einmal mehr unter Beweis.

An Tschaikowskis „Romeo und Julia“ fiel sofort das straffe Tempo auf. Fast schien es, als ob sich Belohlávek nicht für die Feinheiten der programmatischen Motive interessierte. Das vorgelegte Tempo wehte jeden sentimentalen Staub hinweg, und da man kaum Zeit hatte, sich über die berühmten „schönen Stellen“ zu freuen, rückte ein oft vernachlässigter Aspekt deutlich ins Bild: Tschaikowskis meisterhafte Klangregie und die vollendete Beherrschung der orchestralen Mittel, die gerade in diesem Stück äußerst spannend gewählt sind. Eine scheinbar nüchterne Interpretation, die jedoch in ihrer klaren Distanziertheit die Klasse des Werkes unterstrich. Dem Prager Dirigenten stand dabei ein blendend aufgelegtes Gewandhausorchester zur Verfügung.

In gleicher Weise ging Belohlávek an Max Bruchs g-Moll-Violinkonzert heran: scharfe Dynamik, zügiges Tempo und die Bereitschaft, ein solches Werk zu spielen, als sei es das erste Mal. Gerade im ersten und überraschenderweise im zweiten Satz ließ sich Solistin Sarah Chang auf Belohláveks Konzept ein. Und ein wenig zu viel „Zigeunersauce“ im Finale nahm der Interpretation nichts von ihrer Frische.

Als ginge es um eine dritte Demonstration der stupenden klanglichen Möglichkeiten, die Belohlávek mit dem Gewandhausorchester erzielen kann, stand eines der Meisterwerke der Instrumentationskunst auf dem Programm: Maurice Ravels Mussorgski-Bearbeitung „Bilder einer Ausstellung“. Wie Ravel die mögliche Orchestrierung des an sich schon farbigen Klaviersatzes anging, ist immer wieder hörenswert. Feste Bindung an Harmonik und Dynamik, dabei ein Gespür für jene Stellen, an denen zu genuin orchestralen Mitteln gegriffen werden kann. Reine Groteske und wunderbare Zartheit, Gewalt und Meditation stehen gedrängt nebeneinander. Die Popularität von Mussorgskis Komposition lässt kaum vergessen, dass es sich hierbei um eines der eigentümlichsten Werke des 19. Jahrhunderts handelt. Der Detailreichtum von Ravels Partitur ist eine Freude und an diesem Abend wurde er prachtvoll umgesetzt. Das dröhnende Finale der „Grande porte de Kiev“ ist ein Prüfstein für jedes Orchester – hier hörte man keinen Lärm, sondern wirkliche Größe und die sechs stark beschäftigten Schlagwerker behandelten ihre Gerätschaften auch im vierfachen fortissimo noch als Musikinstrumente. Ein „Wunschkonzert“, wie man es sich erfreulicher kaum denken kann.

Gewandhausorchester
Dirigent: Jirí Belohlávek
Solistin: Sarah Chang

Peter Tschaikowski: Fantasie-Ouvertüre „Romeo und Julia“
Max Bruch: Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 g-Moll op. 26
Modest Mussorgski/Maurice Ravel: Bilder einer Ausstellung

7. Februar 2003, Gewandhaus Großer Saal

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