Leben in Figuren

Eine Hallenser Ausstellung zu Ehren des 80. Geburtstages des Künstlers Walter Weiße und ein essayistisches Porträt des Künstlers

„Alles Leben ist Figur – alle Kunst ist Figur.“ (W.Weiße)

Kommt man nach Freyburg an der Unstrut, so eröffnet sich von der Anhöhe aus ein malerischer Blick ins Tal. Die kleine Stadt ist in bewaldete Höhen und Weinterrassen eingebettet. Inmitten von Weinbergen finden sich Winzerhäuschen und die Muschelkalkhänge ringsum begünstigen den Weinanbau.

Hoch über dieser Stadt lebt und wirkt Walter Weiße in seinem kleinen Atelier, das – wie er schmunzelnd berichtet – ebenso winzig ist wie Paul Klees letzte Arbeitsklause am Kistlerweg in Bern. Von hier aus überblickt er die Weinberge und die Neuenburg, und in der Ferne zeigen sich die Türme des Naumburger Domes. Wenn man diese Kulturlandschaft um Freyburg an der Unstrut kennt, die mancher Gegend der Toscana oder Umbriens in ihrer Anmut gleicht, erlebt man die Bilder des Malers Walter Weiße vielleicht tiefer und eindringlicher.

Künstler haben ihre favorisierten Motive; innerhalb ihrer Entwicklung wechseln sie zuweilen, bei manchen halten sie sich ein Leben lang durch. Warum aber kehrt der Künstler zu seinem Gegenstand zurück und gestaltet ihn immer wieder neu? Ist es die Begegnung mit der Wirlichkeit, die den Künstler zu solch‘ einem Akt höchster Konzentration zwingt? Begegnet man Weißes Arbeiten, so erschließen sich die Blätter nicht beim ersten und flüchtigen Anschauen. Sie wirken eher spröde und wollen intensiv erfahren werden, was dem bildüberfluteten Menschen des 21. Jahrhunderts immer schwerer fällt.

Wie das Spätwerk Kandinskys, so erfordert das Betrachten der Bilder Weißes die Fähigkeit des „inneren Sehens“ in Korrespondenz zum Schaffensprozess des Kunstwerks, der von der Suche nach der inneren Form geleitet ist. Weiße fühlt sich im Umgang mit der Wirklichkeit der Kunstauffassung der Klassischen Moderne verbunden, welche die Abstraktion als Gestaltungsprinzip für zugrundeliegende Wirklichkeitsstrukturen weiterentwickelt. Als klassischer Wegbereiter dieses Prinzips gilt ihm Cézanne.

Walter Weiße hat als Maler ein besonderes Verhältnis zur Unstrut-Landschaft, einer Gegend in Mitteldeutschland mit 1000jähriger Weinkultur. An der Synthese von Natur und Kultur interessiert ihn gerade deren Spannungsverhältnis innerhalb der Kulturlandschaft. Dieses kann sehr fruchtbar sein, jedoch ist das erforderliche Gleichgewicht immer bedroht und steht in der Gefahr der Zerstörung durch den Menschen, dem Weiße die Fähigkeit zur Bewahrung aber nicht abgesprochen hat.

Die Haltung, die Weiße dementsprechend seiner Landschaft gegenüber einnimmt, ist die des Wanderers. Landschaft wird heutzutage allzu oft nur noch mit dem auf die Landstraße gerichteten Blick des Autofahrers „erfahren“: als vorbeihuschender Farbklang oder Grauton – dabei geht das Wort Er-fahrung ja auf die langsamere und intensivere Art des Reisens zurück.

Man kann Weißes künstlerische Entwicklung am besten anhand der bildhaften Beziehung zu „seiner“ Landschaft ablesen: am Anfang steht der „einfach sinnliche“ Umgang mit ihr, wie man an seinen frühen Aquarellen sehen kann, ehe er mehr und mehr das Gestalterische an sich in den Vordergrund stellt. Ihm geht es um „die geistige Durchdringung der anschaulichen Form“, er verpflichtet sich, „das Natürliche durch das Künstlerische aufzuheben“, weil „Kunst nicht ohne Denaturalisation der gegenständlichen Wirklichkeit zu machen“ ist.

Dabei ist für Weiße das Verhältnis von Figur, Linie und Farbe wieder neu zu behandeln. Gestalterisches und Kompositorisches, die Suche nach der Form, nach der Korrespondenz von Linien, Flächen und Farben beschäftigen ihn. Im Laufe der Zeit gewahrte er die Kästen der Weinberge als gesonderte geometrische Formen, die in der Landschaft zu schweben schienen. Die Treppen, die das Unten und Oben verbinden, wurden mir als Diagonale bewußt! Das ganze jahrhundertealte System von waagerechten Mauern, von senkrechten Rebpfählen und diagonalen Treppen und Bergabsätzen, ‚Füße‘ – wie man in Freyburg sagt, war anregend prägend für den Bau des Bildes.“

Der Berliner Maler und Grafiker Dieter Goltzsche sagte einmal in einem Gespräch (1979) zu Weiße: „Je öfter ich nach Freyburg komme, um so mehr bemerke ich, daß diese Landschaft allmählich deinen Bildern immer ähnlicher wird.“ Walter Weiße ist ein Papierkünstler, seit Mitte der 60er Jahre brach er die Ölmalerei zunächst aus Mangel an Material ab und entdeckte dabei die Möglichkeiten des kleinen Formats in großer Experimentierfreude. Diese kleinen Arbeiten verlangen sowohl vom Künstler als auch vom Rezipienten große äußere und innere Zuwendung. Walter Weiße arbeitet in wachsender physischer Annäherung, ja Intimität an seinen Werken. So stellen diese auch kleine Meditationen dar, denen man sich nur auf dem Wege konzentrierten Betrachtens nähern kann.

Insbesondere seine inzwischen als ?mail-art? bezeichneten Miniaturen, die er als Postkarten- oder Umschlaggrüße an Freunde und Interessierte verschickt, verdienen besondere Aufmerksamkeit und waren schon Gegenstand mehrerer Ausstellungen. Sie teilen als An-sichts-Karten verschiedene Ansichten des Künstlers mit. Seine Collagen und Übermalungen werden auf Karton oder Papier gefertigt, und es werden neue Bilder auf altem Grund geschaffen. Dabei stellen die übereinander liegenden Bildschichten ein eigenständiges kompositorisches Gestaltungsmittel dar.

Aber Figur und Landschaft werden nicht nur in Collagen gefasst, wenn er verschiedene Papierarten – Bedrucktes und Bemaltes, Fotografiertes oder Geschriebenes – aufeinander bezieht und damit Neues entstehen lässt, sondern ebenso, wenn er die Pinselführung verändert, was ein Malerfreund so umschreibt: „Collage [scheint] für ihn zu einem Prinzip seines gestalterischen Anliegens geworden zu sein“.

Weißes zunehmende Übermalungen sind Zwiesprache mit schon Vorhandenem – seien es Kalenderblätter, Fotos oder alltägliche Gebrauchsstücke und Druckvorlagen. Auch die Landschaft wird als Formtatbestand verstanden. Die schon bestehenden Relationen geraten beim Malen in neue Beziehungskonstellationen. Dabei wahrt er den Schwebezustand zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Oft werden die Titel in Handschrift darunter gesetzt oder entstehen aus den Materialien, so daß sie eine Art innere Umrahmung bilden, was man insbesondere an seinen Nietzsche-Blättern sehen kann. Der Titel gehört als integraler Bestandteil zum Bild dazu und bildet ein Element der Collage.

Weiße ist in der Zeit der DDR einen stillen Weg des Widerstandes gegangen. Schaut man sich die Entwicklung der offiziellen Kunst in der DDR an, so galten diejenigen Künstler als gesellschaftskonform und damit förderungswürdig, die sich einem sozialistischen Realismus verschrieben, der zur Staatskunst erhoben wurde. Weiße verweigerte sich diesen Forderungen und der Huldigung des sozialistischen Menschenbildes, indem er sich selbst treu blieb, und setzte seine Auseinandersetzung insbesondere mit den Künstlern der Klassischen Moderne fort. Damit widersetzte man sich dem offiziellen Parteibeschluss, der den „Kampf gegen den Formalismus in der Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur“ zum Ziel hatte.

Eine wesentliche Bereicherung und Entfaltungsmöglichkeit bot die künstlerische Ausbildung bei Hans Schulze und Elisabeth Voigt, einer Meisterschülerin von Käthe Kollwitz, die auch einen Zyklus zu Jeremia: „Der leidende Prophet“ schuf, was in dem offiziellen Kunstbetrieb der DDR keinen Anklang finden konnte. Unter diesen Bedingungen stellte für Weiße die Heimatstadt auch eine Rückzugsmöglichkeit dar. Als Kunsterzieher konnte er sich größere Freiheiten als im Lehrbetrieb einer Universität erhalten, so daß er nach kurzer Hochschullehrtätigkeit und erfolgter Promotion dem Leben und Arbeiten in der Provinz den Vorzug gab, ohne dabei selbst in künstlerische Provinzialität abzugleiten. Dort konnte er der Enge des sozialistischen Denkens entfliehen. Er malte oft vor der Natur – allein oder mit Freunden wie Roland Richter, Achim Freyer, Charlotte E. Pauly, Dieter Goltzsche u.a.

Nach einer Zeit der Ablehnung fand Weiße später Aufnahme in den Verband Bildender Künstler in der DDR, was seine Werke einem breiteren Publikum zugänglich machte. Zuvor konnte Weiße 1978 auch 60 Arbeiten in der illegalen EP-Galerie von Jürgen Schweinebraden am Prenzlauer Berg in Berlin ausstellen. Auch in der Subkulturszene der näheren Umgebung wurden Ausstellungen – z.B. durch den Naumburger Buchhändler Jürgen Kraefft – organisiert, wodurch den autonomen Künstlern eine Plattform gegeben wurde.

Weiße, der auch in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft malte, hat die Wunden und Brüche seines Lebens und seines gesellschaftlichen Umfeldes immer verhalten gezeigt. Er ist ein Meister der leisen Töne, der dennoch die vorhandene Spannung auszuhalten versteht. Vielleicht könnte man sagen, daß in seinen Werken die Spannung zwischen dionysischem und apollinischem Element wirksam ist und gewahrt bleibt – gerade in einer Gegend des Weinanbaus liegt das Dionysische im Sinne des Rauschhaften ja nahe, was Weiße auch hin und wieder zu einem humoristischen Blick auf die Dinge seiner näheren Umgebung anregt. Das Apollinische bricht sich in der Geometrie und Gesetzmäßigkeit, in Struktur und inhaltlicher Notwendigkeit Bahn, so wie für Nietzsche Apollon und Dionysos zu Chiffren der Grenze und des Grenzenlosen geworden sind.

Die geistige Auseinandersetzung mit Nietzsche nimmt besonders seit dem Beginn der 90er Jahre einen größeren Raum seines Schaffens ein. Wenig später erfolgt auch die Beschäftigung mit dem Dichter Ernst Ortlepp (1800-1864). Beide, Philosoph und Dichter, entstammen dem gleichen Landstrich wie Weiße.

Es gibt eine Arbeit von 1996 („Der Balanceur und die Guillotine“): eine anmutig tänzerisch balancierende Figur bewegt sich – der Tiefe unter ihr nicht gewahr? – scheinbar leicht über den Abgrund. Wir selbst geraten beim Betrachten ins Schwanken, der schmale Grat wird uns bewußt – ein falscher Tritt und wir fallen…. Der Gang über das Seil wird für Nietzsche zum Gleichnis für das Denken – man kann nach beiden Seiten hin abstürzen. Der Mensch hat keine Denk-Sicherungen mehr, das Absolute rettet nicht mehr vor dem Absturz in die Tiefe.

Hier wird deutlich, daß das Prinzip des „Denkens mit dem Auge“, das Weiße von Cézanne übernommen hat, auch für Weißes Umgang mit diesen dichterischen und philosophischen Texten gilt. Weißes Blätter zu beider Leben und Werk entstanden nicht als Illustrationen oder Texterhellungen, sondern als „Versuche, mit den Mitteln des Malers und Zeichners, etwas biografisch EREIGNETES, philosophisch GEDACHTES oder literarisch GEMACHTES im weitesten Sinne zu reflektieren und zum optischen Bild zu verdichten, so daß im anderen Medium eine andere ‚Wahrheit‘ entsteht, die sich auf ihre eigene Art gegenüber dem Vorgegebenen als Bild behaupten mag.“ Die Beschäftigung mit Nietzsche zeigt allerdings auch, wie sehr sich Gegenwartskunst durch Reflexion bestimmt weiß. Wie die Philosophie für das Denken, so sucht auch die gegenwärtige Kunst nach Wahrnehmung und den gleichzeitigen Grenzen der Wahrnehmbarkeit, wobei Künstler und Philosophen gleichermaßen experimentieren.

Für den Beobachter Weiße stellt das „Denken mit dem Auge“ immer zugleich eine geistige Reflexion dar, die allerdings über eine intellektuelle Verstandesleistung hinausgeht. Gerade hier bildet sich am deutlichsten das Grundprinzip heraus, welches seine Kunst und Kunstreflexion beherrscht. Damit steht er in einer Tradition, die von Cézanne über Kandinsky bis hin zu Beuys reicht, zumal diese offene Kunstdefinition sich gerade nicht an eine bestimmte Interpretation der Wirklichkeit binden muß. Ferner ist der Gegenstand oder das Gegenüber der Kunst in dieser Definition nicht festgelegt, da praktisch alles zum Gegenstand der Kunst und des Gestaltens werden kann, was auch eine Hinwendung zum Lapidaren, Einfachen und Ursprünglichen einschließt.

Als „Denken mit dem Auge“ ist die Kunst daher in der Lage, ihren entscheidenden hermeneutischen Beitrag für das Verstehen der Wirklichkeit zu leisten, indem sie das zu einseitig am Prinzip der Wissenschaftlichkeit orientierte Denken zu erweitern und somit zu bereichern vermag. Dieses bildhafte Denken selbst zu vollziehen, ist der Betrachter der Werke Weißes eingeladen, damit sich Begegnung mit der Wirklichkeit ereignen kann. Denn Kunst ist für Weiße Dialog mit dem Gegenüber, oft stille Zwiesprache und immer sensible Annäherung.

So bekommt Picassos Wort: „Nicht suchen – finden!“ für Weiße eine ganz eigene Bedeutung. Weiße ist kein Subjektivist oder Konstruktivist, das Finden ist ein Akt der Intuition, veranlaßt durch das Gegenüber, und wird im künstlerischen Prozess fortgesetzt. Darin stimmt er auch mit der Grundauffassung Klees überein, die bildende Kunst dürfe nie bei einer poetischen Idee beginnen, sondern sie stelle den Bau einer oder mehrerer Figuren dar, die solche Idee zu tragen vermögen. Das heißt auch, daß die Werke nichts Sinnbildliches an sich haben. Sie besitzen keine Bedeutung, sie weisen inhaltlich nicht über sich hinaus, sondern sie sind formal und inhaltlich selbständig.

So leistet Weiße in eindrücklicher Weise eine Synthese zwischen der Kunstauffassung der Klassischen Moderne und der Reflexionskunst unserer Gegenwart, wobei die Einflüsse erkennbar bleiben und doch eigenständig angeeignet und weiterentwickelt werden. Der immer noch körperlich und geistig vital erscheinende Künstler kann an seinem 80. Geburtstag auf ein facettenreiches Lebenswerk zurückblicken. Aber er schaut immer auch nach vorn, täglich arbeitet er in seinem kleinen Atelier hoch über der Unstrut – und wenn es die Skizze einer kleinen „Ansicht“ ist, die er in seinen Tagebüchern festhält.

Zum 80. Geburtstag des Freyburger Grafikers und Malers Walter Weiße am 21. Januar 2003

25.01. bis 16.03.2003, Ausstellung in der Foyer-Galerie des Opernhauses Halle

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