„Der Schweinestall” – Ein Film von Pier Paolo Pasolini (Anja Szymanski)

Schaubühne Lindenfels, 5. März 2003Der Schweinestall (Il Porcile)
Italien/Frankreich 1968/69, 98 min

Regie: Pier Paolo Pasolini (geboren 1922 – ermordet 1975)
mit Pierre Clementi, Jean-Pierre Léaud, Alberto Lionello, Ugo Tognazzi, Anne Wiazemsky

(Abbildungen: Pier Paolo Pasolini / Filmplakat)
In streng miteinander verflochtenen Episoden erzählt Pasolini die Geschichte zweier junger Männer, die aus ihren gesellschaftlichen Verhältnissen ausbrechen, aber am Ende auf makabre Weise scheitern: Der eine verfällt in einer wüstenhaften vulkanischen Landschaft dem Kannibalismus und wird zur Strafe selbst den Tieren zum Fraß vorgeworfen; der andere hegt eine Zuneigung zu Schweinen und endet als deren Opfer. Nach der Vorstellung auf der Biennale in Venedig fanden die Kritiker den in einen ,metahistorischen‘ (mittelalterlichen?) und einen ,modernen‘ Abschnitt aufgeteilten Film fast durchgängig unangenehm und unverständlich. (aus „casablanca-dresden“)„Ich habe meinen Vater getötet, menschliches Fleisch gegessen, und – ich bebe vor Freude!“

Es ist unangenehm, den jungen Wilden (Pierre Clementi) in der gespenstisch kargen Vulkanlandschaft auf der gierigen Suche nach Fressen zu begleiten und sein schonungsloses Tun nachzuvollziehen: Die abgehauenen Köpfe verschwinden in schwefligen Kratern. Der akzeptable Rest wird besinnlich am Feuer verzehrt. Das filmische Schweigen in dieser Episode lässt die Distanz zu derart asozialem Tun verschwinden, beschwert sie nicht durch Interpretation. Aus dem tierhaften Bedürfnis des (wunderschönen) Wilden erwächst ein grauenvolles Handeln, irritierenderweise übersetzt in äußerst poetische und direkt verständliche Kino-Bilder.

In einer anderen Zeit dagegen, 1967, in der prunkvollen Villa eines deutschen Industriellen, wird unentwegt gesprochen. Julian (Jean-Pierre Léaud) spricht mit Ida. Sie sitzen oder stehen sich ungelenk und grotesk gegenüber. Auch sein Vater (Alberto Lionello) und seine Mutter sprechen. Sie sprechen über Julian. Mit ihm stimmt offensichtlich etwas nicht. Er ist nicht folgsam genug, um in die korrupte wirtschaftliche Welt des Vaters einzutreten, aber folgsam genug, um nicht vernichtet zu werden. Alles in allem reicht es, wenn man lediglich über ihn spricht. Ida (Anne Wiazemsky) kann die Liebe des ironisch-distanzierten Jungen jedoch nicht erbetteln, nicht herbeireden. Die familiäre Nähe zur „Zukünftigen“ und sein abgeklärte Spiel von Abweisung und intellektueller Distanzlosigkeit reißt ihr das Herz aus dem Leib. Was sie nicht weiß, und was er als sein zynisches Geheimnis hütet, ist, dass er Schweine liebt. Zum Schweinstall (den Pasolini nie zeigt!) zieht es ihn. Jedoch im Schloss, unter Menschen, verfällt er in Gleichgültigkeit oder triumphale Starre.

So fühlen sich beide, der Kannibale und Julian, den Tieren näher als den Menschen. Der eine offen, der andere heimlich. Bei einem wird es gezeigt, beim anderen nicht (Julians Geheimnis ist im Filmverlauf nur schwer herauszufiltern), wie es sich für eine angeblich zivilisierte menschliche Gesellschaft gehört.
Pasolini, der als Sohn eines faschistischen Offiziers geboren wurde und der sehr wohl wusste, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent werden zu können, begann 1967 eine Reihe von Filmen, in denen heidnische Mythen mit archaischer Brutalität und unterm Aspekt moderner Problemstellungen neu imaginiert wurden.

„Der Schweinestall“ parallelisiert mittelalterlichen Kannibalismus und die postnazistische Zeit. „Die Krise des Marxismus hat mich sehr allein gelassen, und mein Film ,Porcile‘ ist in dieser Zeit gereift. In meinen ersten Filmen habe ich mich mit einer einfachen, epischen Sprache ausgedrückt, weil ich mich – mit Gramsci – auf ein national-populäres Bewußtsein beziehen wollte. Aber ich muß wirklich befürchten, daß dieses Volk im gramscischen Sinne nicht mehr existiert, weil die Gesellschaft des Massenkonsums alles zerstört. Das ist der Grund, warum ich begonnen habe, Filme zu drehen, die auf einer Fabel, auf einer Allegorie beruhen, mit einer Problematik, die dadurch – dessen bin ich mir wohl bewußt – Gefahr läuft, dunkler, schwerer verständlich zu werden. Aber mir bleibt nichts anderes übrig: nur so kann ich versuchen, dem Kreislauf der Massenkultur, des Konsum-Produktes zu entkommen.“
Geht man davon aus, dass es sich bei dem Sujet um eine Allegorie handelt, kann sich das Dunkel ein wenig erhellen und verständlicher werden. Nachdem ein ahnungsloser Reisender auf bestialische Weise seine Frau verliert und sich darüber im Dorf beschwert, wird der Kannibale durch die katholische Kirche bestraft: er muss in der düstren einsamen Landschaft von Tieren gefressen werden. Er findet ein Ende unter seinesgleichen. Der Menschenfresser bereut nicht: Er bebe vor Freude, denn er habe seinen Vater umgebracht und menschliches Fleisch gegessen. So die nahezu einzig gesprochenen Worte in der“poetisch-babarischen“ Zeit. Denn der junge Wilde braucht sich nicht mit seinen Schuldigern versöhnen. Durch ihr Einverleiben hat er sich längst von ihnen befreit.

In der Villa derweil holt Julians Vater zu einem kapitalistischen Triumph gegen einen wirtschaftlichen Widersacher aus. Herr Herdhitze (Ugo Tognazzi) aber, der bourgeoise Kriegsverbrecher, triumphiert ebenfalls, kennt er doch Julians Geheimnis. Und sein Vater lässt sich damit korrumpieren. So sind die Gleichgewichte vom Fressen und Gefressenwerden wieder hergestellt. Während das neue Gleichgewicht großbürgerlich mit Buffet und Musik gefeiert wird, geht Julian auf und davon. Ein paar Bauern berichten Herrn Herdhitze später von Julians Ende: nichts wäre mehr von ihm übrig. „Nichts ?“, fragt dieser, „nicht mal ein Knopf? – Na, dann wollen wir es auch keinem verraten!“ Als direktes Symbol lässt es sich verstehen (nämlich als Pasolinis „wörtlich-barbarische“ Episode), wenn Julian, der zu einer Erpressung ausgenutzt wurde, von diesen/solchen Schweinen gefressen wird. Auch er findet ein Ende unter seinesgleichen, unter denen er sich sein Leben lang bewegte. Sein freiwilliger Gang zum Gefressenwerden zeigt, dass es der einzige Weg für ihn ist, sich aus seinem unnormalen Umfeld zu befreien: Ein allegorisches Pamphlet über die zynisch-hoffnungslose Situation der italienischen Nachkriegsjugend, eine völlig resignierte Absage an den Kannibalismus des neokapitalistischen Bürgertums.

23 Lang- und Kurzfilme hat Pier Paolo Pasolini zwischen 1961 und 1975 gedreht, beginnend mit ACCATTONE, einer modernen, in der Unterwelt Roms angesiedelten Passionserzählung, endend mit SAL? O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (120 TAGE VON SODOM), einem unbarmherzigen, schwarzen Loch der Filmgeschichte. Wie eine Dekade flackerte Pasolinis Leidenschaft kurz, unberechenbar und intensiv und dabei verstellten politisches Engagement und kontroverser Lebenswandel oft einen unvoreingenommen Blick auf das Werk.

So steht der Zuschauer den Gegensätzen in Inhalt und Form dieses Films fassungslos gegenüber, der in seiner ironisch-distanziert eingesetzten Schockästhetik mitunter an Bunuel erinnert. Die flüssigen harmonischen Bewegungen des Wilden in der windigen Landschaft beißen sich mit den abgenagten Unterarm-Knochen und dem Kamera-Focus auf zufrieden kauende Kinnladen. Im Gegensatz dazu stehen die steifen, angestrengten Bewegungen des modernen Menschen und mit seinen ausgefeilten Theater-Dialogen („Il Porcile“ wurde bereits als Theaterstück aufgeführt). Aus der Hochkultur-Villa dringt kein einziges barbarisches Bild, jedes asoziales Tun zeigt sich nur im Reden.

Wir haben hier ein ideologisches Mythentheater in apokalyptischer Tonlage, das den humanistischen Idealen des zivilisierten Zusammenlebens resigniert abschwört. Denn Pasolini zeigt nicht nur, wozu der Mensch (der Wilde) fähig ist, wenn die Umstände ihn dazu nötigen, sondern er zeigt insbesondere, was Menschen mit Menschen (in der Zivilisation) alles tun können, ohne sich im Unrecht zu fühlen. Für Pasolini ist dieses Zusammenleben wegen seines menschlichen Mißbrauchs ohne jeglichen Hoffnungsschimmer durchweg barbarisch. (Anja Szymanski)

Zitate von Pier Paolo Pasolini

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