Grimm und Idylle

Sir Roger Norrington mit Vaughan Williams und Brahms im Gewandhaus

Zum Leipziger musikalischen Alltag kann man Vaughan Williams‘ Werke im Allgemeinen nicht rechnen – umso erfreulicher, dass man nun, 45 Jahre nach dem Tode „RWVs“ wieder einiges von ihm hören kann. Norrington führte seine Brahms-/Vaughan-Williams-Reihe weiter und stellte zwei heftig kontrastierende Werke nebeneinander.

Wer beim Namen Vaughan Williams in erster Linie an die freundlich-pastoralen Klanglandschaften denkt, die sich manchmal ins Wunschkonzert verirren, den muss insbesondere die 4. Sinfonie von 1934 überraschen, jener Koloss, der sich wie reiner komponierter Grimm anhört. Vaughan Williams sagte einmal, er wisse selbst nicht, ob ihm seine Sinfonie gefalle, aber es sei genau das, was er habe sagen wollen. Aus einem einzigen knappen Motto entwickelt Vaughan Williams eine Dreiviertelstunde voller Spannung und Schroffheit. Marschfragmente und viel schweres Blech, mächtige Kontrapunktik prägen das Klangbild – dann wieder verstörend sanfte Episoden, die wie paralysiert wirken.

Vaughan Williams arbeitet zwar mit traditionellen Mitteln, setzt diese aber im Plan einer höchst individuellen sinfonischen Dramaturgie ein. Kein „durch Nacht zum Licht“, keine enthusiastische Weltumarmung – auch kein resignierendes Adagio-Finale beschließt die wütenden Attacken. Vaughan Williams beendet seine Vierte mit einer gewaltigen Fuge, bevor die Musik regelrecht implodiert und lapidar mit einem F im mehrfachen fortissimo endet. Die vollendete Beherrschung „klassizistischer“ Techniken steht hier jedoch nicht im Dienst einer konservativen Altmeisterlichkeit, sondern hat eine dissonante Monumentalität zum Ergebnis, die ihresgleichen sucht.

Souverän spannte Norrington diesen ausufernden Bogen und sorgte dafür, dass die ungestüme Wucht der Sinfonie nie zu einer zähen Schwere gerann. Das, was Vaughan Williams sagen wollte, rief jedenfalls beim Publikum einige Verstörung und damit eher zaghaften Applaus hervor. Die Satzpausen legten – und auf wahrhaft erschreckende Weise – Zeugnis vom bedenklichen Gesundheitszustand des Publikums ab, welches zwischen den Sätzen eine Art akustischer Notdurft verrichtete, proportional zur Phonstärke des vorangegangenen Satzes. Überwiegend feuchter Rasselhusten ließ besonders nach dem ersten Satz das Auditorium in prekären Gegensatz zum Programmheft geraten („Auf diesen tieftraurigen Schluss folgt eine Generalpause, in der alles benommen der nun verstummten Klage nachzulauschen scheint…“).

Wie geschlagenes Gold – so lautet ein zeitgenössisches Urteil über Johannes Brahms‘ zweite Sinfonie. Sir Roger ließ echtes Edelmetall hören. Kein „rekonstruiertes“ historisches Klangbild – Norringtons Spezialität – freilich, aber ein Brahms, frei von jener trägen Behäbigkeit, die Hugo Wolf dereinst mit „Leimsiederei“ umschrieben hat. Zwischen größtmöglicher Zartheit und beklemmender Dunkelheit bewegt sich das klangliche Gepräge der Zweiten. Deutlich ist der Kontrast zum Vorgängerwerk. Sanfter Hörnerklang prägt den Kopfsatz und evoziert eine merkwürdig idyllische Atmosphäre. Dieses Idyll ist jedoch stets gefährdet und droht bisweilen zusammenzubrechen. Das stellt Brahms ohne jene Brachialität, nur mit Andeutungen heraus. So etwa, wenn die Musik im Finale plötzlich abbricht, um einer dämonischen Episode mit leisem Paukengrollen Raum zu geben, und dann wieder neu einsetzt, bemüht, ihre eigene Untergründigkeit zu ignorieren.

Wie Norrington diese großartigen Momente, diese düstere Schicht in Brahms‘ „Pastorale“ freilegte, ist schlichtweg genial. Federleicht schwebte das Scherzo vorbei und Norrington tanzte dem Orchester den Satz buchstäblich vor. Überhaupt: Sir Roger beim Dirigieren zu beobachten, ist eine reine Freude. Pathetisches Genieballett liegt ihm fern, mit wenigen nüchternen Gesten leitete er das Orchester, dazu hatte er virtuoses Hüpfen und Tänzeln im Repertoire. Und wer es schafft, ein halbes Dutzend Cellisten im Dienste der Klangtransparenz über weite Strecken vom Vibrato abzuhalten, der weiß, dass er das Orchester beherrscht. Das Podium betrat er, als befände er sich auf einem Waldspaziergang, und den tosenden Beifall quittierte er mit fröhlichen „Nicht doch“-Gesten. Dann kämpfte er sich durch Stühle und Notenständer, um den herausragenden Solisten die Hände zu schütteln.

Gespannt sein darf man darauf, wenn Norrington demnächst den sinfonischen Spieß umdreht und „RWVs“ „Pastorale“ (London SymphonyPastorale) mit Brahms‘ Dritter konfrontiert.

Ralph Vaughan Williams: Sinfonie Nr. 4 f-Moll
Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73

Gewandhausorchester Leipzig
Sir Roger Norrington

13. März 2003, Gewandhaus, Großer Saal

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