Warten auf TschechischMosaiksteine von der „Prager Nacht“

Gewappnet mit einem ergiebigen Programm, dessen klare Ordnung mich bunte Mosaike aufregend schnell wechselnder Kulissen und stilistischer Wechselbäder entwerfen lässt, erwarte ich auf den Bänken vor der Thomaskirche mit einem langen Blick auf die ersten Zeichen des Frühlings das Kommende. Dann stelle ich mich der durch viele Menschenkörper ausgebeulten Schlange vor dem schmalen Eingang zum Dachstuhl.

Vor der Enge der Tür und der bedrohlichen Steilheit der Wendeltreppe verstummen meine planvollen Bilder. Ich stolpere etwas und fürchte, gerade jetzt ein Anlass des Anstoßes zu werden. Es passiert nicht, vielmehr weitet sich der Blick plötzlich, dicke Holzbalken messen erst vereinzelt, dann zunehmend ineinander verschachtelt den Raum aus, bis man in dem Weitläufigen des Dachstuhls den Überblick verliert und von waldigem Holzgeruch umgeben wird. Der Blick verfängt sich in der faszinierenden perspektivischen Vielfalt, im ständigen Verdecktwerden und Sichzeigen der weiten Ebenen nach oben und nach unten.

Die größtenteils zufällige Hörergemeinschaft stellt sich wie zum Chorsingen auf, während eine Treppe in einen unsichtbaren Raum nach oben führt. Wir warten auf die Lesung wie auf eine Offenbarung. Bedächtig schreitet ein junger Mann mit dicker Jacke herab, sich schließlich umwendend mit dem Ruf: „Rosena! Rosena!“ Glaubt man, den Ruf vom Klappern der Töpfe in einer ärmlichen Küche zu vernehmen, deren Herrin mit ungeduldiger Stimme die unwillkommene Störung beantwortet mit: „Ja, was willst Du?“, so deckt sich das wohl mit dem inneren Wunsch des Protagonisten von Jirí Weil. Seinen einzigen Trost findet er in der Unterhaltung mit seiner längst nicht mehr anwesenden Geliebten.

In der Kälte unter dem Dach fällt es leicht, mit dem armen Kerl zu fühlen, der im leergeheizten, einst mit Holzmöbeln gefüllten Zimmer sitzt. Wenn dann das widerwillige Knurren des Magens beim Gedanken an Blut-Graupen-Suppe und das Zittern vor der Deportation hinzukommt, ist wahrlich allein der Klang des Namens „Rosena!“ noch von tröstender Wärme. So wird das nachdenklich-beseligte Lächeln der Heraustretenden verständlich, das sonderbar mit dem Ernst der draußen Wartenden kontrastiert.

Schon mein zweites Mosaiksteinchen zerfällt zu Staub, als die Entscheidung fällt, den Zoo nur in Form des in den Bus dringenden Geruchs zu besuchen. Hin und her werden wir geschüttelt durch die fahrige Fahrweise des Fahrzeugführers, der außerdem einen Umweg fährt. Und da der Bus nicht dort hält, wo er ursprünglich sollte, sind die Füße gefordert, die kleine organisatorische Schwäche auszugleichen.

Die Augen, kaum an das plötzliche Auftauchen einer Fabrik im Wohngelände gewöhnt, werden durch steinerne Gewölbe geführt, um vorerst ratlos an Bierfässern haltzumachen und erst durch das Auftauchen des Vorlesenden die Gewissheit zu erhalten, hier richtig zu sein. Leider hält sich in seinem Schlepptau ein kletterwütiger Fotomensch, folgt ihm auf eines der Fässer und macht den Lauschenden während der Lesung mit den Blitzen seiner Tätigkeit eine helle Freude, was ihm aus meiner Sicht nicht gelingt. Haseks beißender Spott über amerikanische Puritanisierungsversuche leidet ein wenig. Doch wie immer überzeugt die teils heitere, teils bittere Ironie, mit der der gescheiterte Bankangestellte, landstreichend-anarchische Trinker und schließlich tatkräftige Kommunist Hasek kulturelle Beeinflussungsversuche und deren Auswirkungen beschreibt, wie etwa in seinen Schwejk-Erzählungen.

Noch weniger unbelastet beschreibt Ivan Olbracht die Lebensumstände der Minderheiten im monarchisch-bürgerlich-kommunistischen Spannungsfeld der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit. So freue ich mich auf die Lesung seiner Texte zum Leben orthodoxer Juden. Jetzt gleich, in der Synagoge. Schnell in den Bus, alles voll. „Durchrücken da hinten!“ „Nein, erst Durchtreten!“ „Hier ist kein Platz mehr!“ „Wollen Sie durch?“ „Au, das war mein Fuß!“ „Ich kann mich kaum festhalten.“ „Oh, das tut mir leid!“ „Hier geht es besser.“ „Geht es denn nicht weiter?“ „Ich bleib jetzt hier stehen.“

Kaum auf sicherem Boden gilt es sich anzustellen in der Hoffnung, mit Literatur belohnt zu werden. Die Hoffnung allerdings, meinen Plan oder irgendeinen Plan einzuhalten, habe ich aufgegeben. Wie kurz aufblitzende Lichter auf dahin getrotteten Wegen erscheint nun jede Veranstaltung. Wir stellen uns an und warten. Ein Polizist steht da, er schaut misstrauisch. Ein Schritt vor, drei, vier Leute kommen aus der Tür. Sie überbringen die Nachricht, dass drinnen streng kontrolliert wird. Taschen, Jacken, und so weiter. Verständlich. Aber warum weiß man das erst jetzt? Mir fällt die Entschuldigung der Veranstalter ein, hinten im Programm, alle würden sich bemühen, aber wenn… Das Haus sieht normal aus, wie ein Wohnhaus, nur die bunten Fenster deuten auf etwas Besonderes hin. Ein Schritt vor. Warten. Die Türen öffnen sich gegeneinander. Wenn die Metalltür gegen die Holztür fällt, scheppert es. Wir warten. Dann, irgendwann, Kontrolle. Alle Schlüssel raus, Arme hoch wie im Gefängnis, ein gereizter Mann kontrolliert, dann vorbei und hinein in den Synagogenraum.

Der verzierungsreiche, säulenbestandene Raum verwundert mich. Weitflächiges Blau, dann eine mit rotem Samt umgebene Holztäfelung, goldene Krone, hebräische Schriftzeichen, davor die siebenarmigen Kerzenständer mit elektrischen Lichtern, überall der Davidstern. Die dicken Säulen und die runden Deckenlampen in den Seitenschiffen, der große Kronenleuchter im Hauptschiff, die Empore und viele andere Dinge lassen mich schnell abseits orthodoxer Bezüge denken. Auch die chassidische Musik im Hintergrund trägt ganz andere Stimmungen hinein.

Nach einiger Zeit tritt ein weißhaariger Mann vor die gepolsterten Holzbankreihen. Meine klischeehafte Vorstellung hatte einen Rabbiner mit grauem Rauschebart erwartet, aber seine sonore, breit und jedes Worte beschwerende Stimme bringt sofort den Zug der religiösen Predigt, den ich bis dahin nirgendwo entdeckt hatte. Mojschele klagt sein Leid. Wieder ist die wunderbare Zeit der vorehelichen Keuschheit, der Reinheit in allen Dingen, vorbei, wieder wird seine Frau des Nachts alle ihre zurückgedrängten Wünsche einfordern, im Gewühle und Gedränge und Gestoße. Mojschele hofft auf ein Wunder, mit dem Gott ihm diese schwere Last von den Schultern nimmt. Und Mojschele bekommt sein Wunder. Mehr als ein Zentimeter fehlen in der Reinigungswanne. Mojschele freut sich. Der Skandal erregt das ganze Viertel und seine Frau, wenn auch diese aus einem anderen Grund. Denn Mojschele kann sich nicht baden, und so darf seine Frau ihn nicht berühren. Gott schenkt ihm eine geruhsame, reine Nacht – und Olbracht mir ein tieferes Verständnis hinsichtlich des Verhältnisses von jüdischer Orthodoxie und jiddischem Witz.

Bei der Ankunft am Bundesverwaltungsgericht wird klar, dass der verspätete Bus den peniblen Wachmann dazu verleitet, die zwei Minuten zu spät Eintreffenden in der Vorhalle warten zu lassen. Nur die hochpolitische Volksrede eines Aufgebrachten bringt noch ein wenig Komik in die Situation, doch ich fühle mich wie in einer Kirchenbesuchergruppe ohne Führer. Auch die überladene Goldverzierung mit Adlern und Wappen, die monumentalen Gemälde preußisch-königlicher Würdenträger und die säulenbestandenen Emporen entfachen keine Begeisterung.

Und trotzdem passt es wunderbar. Der selbstgefällig, altherrenartige Ton des Juristen, den Karel Capek von dem unglücklichen Umgang mit seiner Frau berichten lässt, die als Angeklagte vor seinem Eifersuchtsgericht steht. Die bittere Reue über das ungerechtfertigte Vorgehen, die lauernde Befragung, mit der er auf das einzige, wirkliche Beweismittel zielt, das zufällige Aussprechen der Wahrheit. Wie ist er doch glücklich, als alles sich zum Besten wendet, als am Ende ihre Unschuld bewiesen ist – in seinen Augen. Ihn in seiner Gewissheit glücklich zu sehen, während ihres unbeschwerten Zusammenseins mit einem Anderen, macht wieder einmal klar: Unser Glück ist abhängig von der Vollkommenheit des Scheins, egal welches Sein sich dahinter verbirgt.

Das Versprechen von Zigeunerjazz und der bisher ungastronomische Weg lenkt schließlich zum Ratskeller. Es spielt noch niemand, eher zufällig geht die Bewegung abwärts, wieder in Gewölbe, doch von kalter, klarer Nüchternheit, kahle Festigkeit ziegelroter Wände. An den vollbesetzten Bänken vorbei tritt ein Mann in schwarzem Samtanzug und beginnt mit tiefer, rauher Stimme weite Landschaften des Urromantikers Máchas in den dumpfen Raum zu zaubern. In denen münden die herrlichsten Farben der Natur in geheimnisumwitterte Wege durch bergbewachsene Wälder, auf denen der unermüdliche Wanderer „den Einbruch der Mitternacht durch weithin schallende Glocken alter, fast zum Unbekannten verwitterter Gemäuer verkündet bekommend“ in die Schatten unwirklich wirklicher Geschichten gezogen wird. Hier, der Zeit und den Zeiten verloren, erlebt er einen Tag wie ein Jahrhundert und ein Jahrhundert wie einen Tag, bis ihn schließlich die reinigenden Fluten des klarsten Bergwassers aufnehmen.

So beschwert von bildverlorenen Worten, ist Müdigkeit alles und alles Müdigkeit. Jeder Ärger, jede sinnenlos verstrichene Minute verflüchtigt sich dann, und auf dem Heimweg bleiben nur noch die einzeln aufleuchtenden Mosaiksteine, deren stilistische und architektonische Buntheit jede Erinnerung versüßt und den Reichtum der tschechischen Fantasien im dankbaren Gedächtnis verewigt.

Prager Nacht
Eine Auswahl aus dem Programm:
Dachstuhl Thomaskirche – Jirí Weil / Aus: Leben mit dem Stern
Sprituosenfabrik Horn – Jaroslav Hasek / Der Abstinenzlerabend oder ein amerikanisches Vergnügen
Brodyer Synagoge – Ivan Olbracht / Aus: Der Vorfall in der Mikwe
Schwurgerichtssaal Bundesverwaltungsgericht – Karel Capek / Der vollkommene Beweis
Kasematten Neues Rathaus – Karel Hynek Mácha / Aus: Die Pilgerfahrt ins Riesengebirge
15.03.2003

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