Vom Autor, der nicht lächeln, und der Dame, die nicht einschlafen konnteMichel Houellebecq ist eine Mischung aus Tischler und Lieblingskellner: Impressionen eines aufmerksamen Zeitgenossen

Gestern war ich in so ’ner Veranstaltung. Irgend ein Franzose hat gelesen. Soll ein Skandalautor sein, Michel Houellebecq heißt er. Eigentlich wollte ich ja am Fernseher auf den Krieg warten. Aber Bushs Ultimatum an Saddam Hussein lief erst gegen zwei Uhr aus. So bin ich eben mit ein paar Kollegen mitgegangen. Halb elf sollte es anfangen. Kurz davor wollten wir uns treffen. Aber ich kam fünf Minuten zu spät. Zum Glück hatte sich auch der Autor verspätet. Aber ich musste nun allein sitzen. Hinter mir fragte eine Frau, deren Bauchumfang noch größer war als meiner (außerdem war sie stark geschminkt), ihren Begleiter: „Wie lange geht’n das hier?“ „Bis alle eingepennt sind“, meinte der. Ich schaute ihn an. Nicht weil ich mich wunderte über das, was er gesagt hatte, sondern nur, weil ich wissen wollte, wie er aussieht. Er erschrak irgendwie über meinen Blick und ergänzte gegenüber seiner Begleiterin: „Na weil’s so stickig hier drinnen ist.“

Inzwischen ist es dreiviertel elf. Ein netter Herr vom Dumont-Verlag spricht von Zeiten des Krieges und von Zeiten der Lüge, gegen die ein Literat ankämpft. (Irgendwie muss er ja auf den Irak-Krieg eingehen.) Houellebecq sei eigentlich ein romantischer Glückssucher, seine Werke unmoralisch schwarze Sittengemälde eines Moralisten.

Houellebecq erinnert mich vom Äußeren her an meinen Tischler (obwohl er weiß Gott nicht wie ein Handwerker aussieht). Und vom Wesen her an meinen Lieblingskellner, einen kraftlosen Typen, dem jede Bestellung und jeder Gast zu viel sind und dem das Leid ins Gesicht geschrieben steht. Und der dennoch stets höflich und korrekt ist. Leider liest er französisch. (Daran hatte ich gar nicht gedacht, dass er ja Franzose ist. Wieso sollte er da nicht französisch lesen.) Die Leute um mich her schauen ganz aufmerksam und lächeln wissend. Zumindest tun sie so, als würden sie alles verstehen. Vielleicht ist es ja auch so.

Houellebecq liest aus zwei Aufsätzen, die im Deutschen noch unveröffentlicht sind, Technische Tröstung und Lebendigbleiben. Zum Glück sind sie schon übersetzt (von einem Hinrich Schmidt-Henkel). So kann der Schauspieler Martin Wuttke, der neben Houellebecq sitzt, sie auf deutsch vorlesen. Den Wuttke hab ich schon mal im Fernsehen gesehen, der hat den Arturo Ui gespielt. Ziemlich verrückt, soweit ich mich erinnere. Habs glaub ich nicht bis zum Ende durchgehalten. Mich wundert nur, dass der Franzose nicht raucht. Die rauchen doch immer, und gerade, wenn sie Skandalautoren sind. Ein Skandalautor ist Kettenraucher, anders geht das gar nicht. Na wie dem auch sei, wenn der Wuttke liest, verstehe ich wenigstens, worums geht. Ich finde mich nicht interessant. Ich bin meiner überdrüssig.

In dieser Art gehts los bei der Technischen Tröstung. Während der Wuttke liest, stiert Houellebecq leer in die Luft. Ohne Regung im Gesicht. Irgendwie handelts von einer Vater-Sohn-Beziehung. Der Vater ist seiner selbst überdrüssig, freut sich aber, wenn er Eigenschaften, die ihn an sich selbst anöden, bei seinem Sohn wiederfindet. Und noch mehr, wenn es dieselben Eigenschaften schon bei seinem Vater gab. Und ihn packt das Entsetzen, wenn er Eigenschaften an seinem Sohn entdeckt, die er bei sich nicht findet. Ihnen haftet der Geruch des Todes an. Daran erkennt er seinen Untergang.

Die Schnabelschuhe vom Wuttke fetzen. Sind schwarz und müssen irgendwie aus Krokodils- oder Schlangenleder sein. Knöchelhoch. Und viel zu lang für den Fuß. Farblich passt der Anzug überhaupt nicht dazu.Die westliche Philosophie ist eine lange und falsche Dressur, sich falschen Gedanken anzupassen. (Ich versuch mich auf das zu konzentrieren, was vorn erzählt wird.) Dem Gedanken, dass wir den Anderen anerkennen, weil er anders ist. Und dem Gedanken, dass der Tod nicht endgültig über uns triumphiert. Der Erzähler hat mit dem Anderssein nichts am Hut. Und mit dem Tod auch nicht: Ich sterbe ohne Freude. Er will sich klonen lassen. Will weiterleben ohne Untergang. Schade nur, dass dann der Sex überflüssig wird. Eine jener kleinen harmlosen Freuden, Klammer auf, humanistischen, Klammer zu.

Warum sieht der Franzose so traurig aus? Warum lächelt er nicht? Dumme Frage, weil er nicht will. Sein bemühter Ernst ist nicht unsympathisch.Über sich selbst sprechen ist widerwärtig. Über sich selbst schreiben, der einzige Weg, der zu was führt. Den ohne Sex entstandenen Klonen würde eventuell der Bauchnabel fehlen. Aber die über sich selbst schreibende Literatur würde immer eine Nabelschauliteratur bleiben.

„Woll’mer gehen?“, hör ich die Frau, die noch nicht eingeschlafen ist, zu ihrem Mann flüstern. Er scheint mit dem Kopf zu schütteln. „Biste sicher?“ klingts nur resignierend aus ihrem Mund.

Jetzt liest Houellebecq wieder. Mit weicher und matter Stimme. Müde sieht er aus mit seinem grauen Wollwestower, aus dem ein gelber Hemdkragen hervorscheint. Eine Frau beginnt zu husten. Besser gesagt, sie beginnt ihr Husten zu unterdrücken. Es klingt, als würde sie unter einem Kissen kotzen. Eine unterdrückt dezente Instrumentalbegleitung zum leisen Melodiefluss des Französischen.

Dann ist Wuttke wieder dran. Lebendiglich ist so was wie ein Ratgeber für angehende oder ausgehende Schriftsteller. Und jetzt wird es richtig kompliziert: Die Welt ist entfaltetes Leid. Das Nichts bebt und leidet entsetzlich, bis es das Dasein ist. Die erste Bewusstseinsstufe in diesem Prozess ist der Schrei. Er ist das Medium der Dichtung. Deren Aufgabe ist es, zum Ursprung zurückzukehren, zum Leid. Jedes Leid ist ein Universum. Das Leid von Kindern, jetzt werden Beispiele aufgezählt, ist die beste Voraussetzung für eine Dichterlaufbahn.

Jetzt raucht er doch. Und wie! Houellebecq mein ich. Das Ideal der Liebe bleibt, gerade weil es irreal ist, eine unversiegbare Quelle des Leids. So etwas wie Charité entsteht, wenn Frauen dieselben Frauenzeitschriften lesen. Dann empfinden sie annähernd dasselbe Leid. Aber das Leid ist widerwärtig. Ohne den Widerwillen gegen das Leben ist keine Wahrhaftigkeit möglich. Seien Sie widerwärtig, dann sind sie wahrhaftig!

So wie Houellebecq guckt, will er uns wohl glauben machen, er meine das ernst. Jetzt schaut er gar deprimiert zu Boden. Doch nein, er blättert nur in einem Buch, das er aus einem kleinen Rucksack, der zu seinen Füßen liegt, geholt hat. Die (literarische) Struktur ist das einzige Mittel, vom Leid nicht aufgezehrt zu werden. Dennoch sei die Arbeit an der Form überflüssig, lediglich die Mühe, gegen die Apathie anzukämpfen, sei unabdingbar.

Das Publikum lacht bei Sätzen wie: Haben Sie keine Angst vor dem Glück, es existiert nicht. oder Der Dichter ist ein heiliger Parasit auf dem verfaulenden Körper einer kranken Gesellschaft. Oder bei der Warnung, als Autor nicht zu vergessen, ein paar Spuren zu hinterlassen, und sei es eine kleine Publikation in einer zweitrangigen Zeitschrift, um nicht alles die Literaturarchäologen ausgraben zu lassen. Denn das ginge oft schief.

Houellebecqs Miene bleibt unverändert.

Jemand hat mir mal erzählt, der Philosoph Schopenhauer habe gesagt, das Leben bewege sich unablässig zwischen Angst und Schmerz. Daran muss ich denken, wenn es bei Houellebecq jetzt heißt, der Dichter pendle zwischen Verbitterung und Lebensangst. Und dagegen hilft vor allem Alkohol. Wir können nicht die Wahrheit und die Welt lieben.Die Dichtung und die Neurose sind zwei Wege, die Welt zu erfahren, zwei Wege, die sich kreuzen, vielfach kreuzen, bis sie schließlich verschmelzen. Sie (die Dichter) müssen aus der Silberader der Dichtung die Blutader der Neurose machen.

Ein Mädchen in der ersten Reihe hat die Augen geschlossen. Wahrscheinlich schläft sie. Im Konzert kann man ja wenigstens noch so tun, als würde man mit geschlossenen Augen viel konzentrierter zuhören. Aber in einer Lesung? Die Frau hinter mir kann nicht einschlafen. „Was’n das jetzt?“, fragt sie, als Houellebecq schon wieder zu lesen beginnt. „Ach so ja, ’s komm ja noch Gedischde.“

Auch die Gedichte werden in der deutschen Nachdichtung von Wuttke gelesen.Dieses Jahr bin ich sehr gealtert
Ich habe 8000 Zigaretten geraucht.

(„Puuuh“, hör ich sie hinter mir seufzen.)Ich respektiere die Menschen nicht
Ich beneide sie jedoch.

Houellebecq erzählt in einem weiteren Gedicht von seinem Urlaub mit dem Sohn, in einer tristen Jugendherberge, und von dem Wunsch, einfach mit dem Leben aufzuhören. Plötzlich glaub ich ihm seinen Weltschmerz. Ich weiß auch nicht warum. Fast tut er mir leid.

Jetzt kommen noch ein paar Verse über einen Pudel. (Ein Pudel kann einen nicht vor Gaunern beschützen, doch er besitzt eine Kindlichkeit, die Freude macht… Oder so ähnlich.) ?Das is doch keen Gedischd?, sagt die Frau, die nicht einschlafen konnte.

Am Ende klatschen die Leute, einige stellen sich an, um ein Autorgramm zu erhaschen. Ich geh hinaus und stell fest, dass ich in der Hast vergessen hab, wo ich mein Fahrrad abgeschlossen hatte. Meine Kollegen schauen herüber. Ich ducke mich. Wie soll ich ihnen erklären, auf welche Art ich mein Fahrrad verloren hab. Die halten mich doch für verrückt. Ich geh nach Hause, zu Fuß. In spätestens zwei Stunden müsste ich daheim sein. Gerade rechtzeitig, um den Kriegsbeginn noch mitzuerleben. Es ist jetzt fünf vor zwölf.

Lesung mit Michel Houellebecq am Vorabend der Leipziger Buchmesse 2003 und am Vorabend des von den USA entfesselten Irak-Kriegs

19.03.2003, Academixer-Keller

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.