Walser schreibt weiter

Zur Buchmesse: Bernhard Echte über Robert Walsers „Aus dem Bleistiftspitzengebiet“ – Eine Entzifferung und Lesung

Am Welttag der Poesie, dem Frühlingsanfang und dem Tag des Beginns eines offensiven Bombardements im Irak wird um 19.30 Uhr im Sitzungszimmer mit Reichsbibliothek gesagt, Leipzig lese trotzdem.

Rainer Weiss vom Suhrkamp Verlag hält eine kurze Einführungsrede. Er zitiert Hermann Hesse, der gemeint habe, die Welt wäre besser, wenn Walser hunderttausend Leser hätte, und würdigt die Arbeit von Bernhard Echte und Werner Morlang, den Männern, die sich an die 20 Jahre mit der akribischen Arbeit des Entzifferns von Robert Walsers Bleistiftmanuskripten beschäftigten. Zuweilen verwendet Weiss dabei statt Robert den Namen Martin, worauf ihn erst ein Zuruf aus dem etwa sechzigköpfigen Publikum aufmerksam machen muß.

Bernhard Echte, Leiter des Robert-Walser-Archivs in Zürich, meint wirklich Robert Walser, 1878 geboren (125. Geburtstag 2003), 1956 in der Heilanstalt Herisau gestorben. Herausgegeben von Echte erschienen im Jahr 2000 die Walsertexte Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme 1924-1932 (Hrsg. in Zusammenarbeit mit Werner Morlang), im Jahr 2002 Dichteten diese Dichter richtig? und im Jahr 2003 der Band Feuer. Letzterer vereint Walser-Veröffentlichungen aus verschiedenen Zeitschriften, die Echte in den letzten Jahren gesucht und gefunden hat. Walser, sagt Echte, schreibe irgendwie immer noch weiter. Noch 47 Jahre nach seinem Tod ließen sich neue Texte von ihm finden.

Betont und eindringlich liest Echte aus Feuer zwei kurze Texte, die, wie es nicht selten bei Walser der Fall ist, das Schreiben oder den Schreibprozeß thematisieren. In Der Schriftsteller attestiert Walser dem Schriftsteller (sich selbst), eine Art Lederstrumpf zu sein, der ständig auf Ereignisjagd ist und zur Überrumpelung bereit. Der nicht alles wisse, aber von allem etwas ahne und sich mit allem beschäftige. Und der, wenn er denn einmal eine fadendünne Bereicherung erfahren habe, sie sogleich aufs Papier schütten wolle. „Was ich da sage, läuft mir aus dem Mund.“, heißt es in dem zweiten Text, und das ist er: der Walser, der dem spontanen Einfall und Zufall vertraut, der sich in den Wortfluß begibt und von ihm treiben läßt.

„Eben sprang aus einem Verlagshaus ein Buch heraus…“ Echte bei der Rezitation von Walser-Mikrogrammen zuzuhören, ist vergnüglich. Lachkrämpfe stellen sich ein. Walsertexte kann man wiederhören und wiederlesen, ohne daß sie langweilen. Vielschichtig und wechselhaft offenbaren sie sich je nach Stimmungslage so verschieden, daß ich schon manchmal (etwa bei der Lektüre von: Dichteten diese Dichter richtig) glauben wollte, ich blätterte in einem Chamäleon.

Neben der Rezitation werden ein paar Einblicke in die Arbeit von Mikrogramm-Entzifferern gewährt. Mit bloßem Auge oder mit einem Fadenzähler, einem Instrument aus der Textilindustrie, nähert man sich der 1-2 mm großen, hochverdichteten, homogen anmutenden Bleistiftschrift Walsers. Es gilt zu unterscheiden und abzuwägen, was etwa aus der Struktur des Papiers komme oder was aus dem Aufdruck einer Bleistiftmine. Es gilt, nicht nur zu lesen, sondern auch wirklich zu lesen, soll heißen, auch die Fähigkeit zu entwickeln, Worte aus dem Kontext zu schließen und aus der vorgegebenen Sprachlichkeit. Sieben Manuskriptdurchgänge seien notwendig gewesen, um einen konsequenten Sinnhorizont zu erschließen, erzählt Bernhard Echte.

Seien Walsers frühe Manuskripte bis 1908 noch Wunderwerke der Kalligraphie gewesen, rhythmisch und schwungvoll, so habe schon um 1910-12 in Berlin das Verzittern seiner Handschrift, der „Schreibkrampf“, begonnen. Eine Tatsache, unter der Walser litt, sah er doch das äußerliche Abbild eines Manuskripts in enger Beziehung zum inhaltlichen Gelingen. Er begann in den zwanziger Jahren, die Prosa mit dem Bleistift vorzuschreiben, um sie dann, wie er in einem Text schreibt, „mit der Feder in die Bestimmtheit hinein“ zu schreiben. Der Bleistift stand in gewisser Weise für das Vorläufige, das Private und Provisorische. Der zweite und verhaßte Schritt war dann die Reinschrift mit der Feder.

Noch 1957 hatte der Verleger und Mäzen Carl Seelig gemeint, daß die Hunderte von engst beschriebenen Bleistiftmanuskriptblättern eine Geheimschrift enthielten. Seeligs Meinung war, so Echte, der zur Zeit an einer Walser-Biographie mit neuen Dokumenten arbeitet, sicherlich wohlbegründet in dem Wunsch, andere Werke aus dem Nachlaß Walsers zu veröffentlichen. Denn nichts habe Seelig mehr gefürchtet als das Stigma des Verrückten, das Walser wieder diskreditieren könne.

Hört oder liest man die Mikrogramme, ist von Irrsinnigkeit nichts zu spüren. Bernhard Echte sagt über das jahrzehntelange Mammutwerk der Entzifferung: „Sie haben recht, ich habe mich tatsächlich nie gelangweilt.“ und macht aufmerksam auf den Facettenreichtum Walsers. Und er hat recht.

Kaum ein Schriftsteller, der so lebendig, menschlich, nichtirrsinnig, warm und kraftvoll schreibt wie Walser. Kaum einer, der so berührt und ermuntert. Wodurch? Durch Übermut und Spielfreude, durch Naivität und Weisheit, durch Unangepaßtheit und Nachdenklichkeit und den Mut zur Abweichung. Soll ich nun auch noch gestehen, daß ich einmal nach einer Lesung zu Füßen der amüsierten Ilse Aichinger saß, um zu sagen: „Wissen Sie, daß ich seit Jahren eine Admirateuse von Ilse Aichinger bin?“, und daß ich, wenngleich älter geworden, jetzt gern zu Füßen von Robert Walser säße, um den bereits gebrauchten Satz ein klitzekleines bißchen abzuwandeln, ohne damit seinen alten Sinn zu schmälern, etwa in (man höre und staune): „Wissen Sie, daß ich seit Jahren eine Admirateuse von Robert Walser bin?“ Ich tus.

21. März 2003, Deutsche Bücherei

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