Lesung zur Buchmesse: Lesung und Gespräch mit Imre Kertész und Jan Philip Reemtsma (Steffen Lehmann)

22. März 2003, Leipziger Stadtbibliothek
Lesung und Gespräch mit Imre Kertész und Jan Philip Reemtsma


Etwas authentisch sagen

Kündigt sich Imre Kertész zu einer Lesung an, dann ist ihm Aufmerksamkeit garantiert. Wie groß der Anteil des Nobelpreises an der Popularität des ungarischen Autors mittlerweile ist, mag nebensächlich zu sein. Unterstellen wir einmal, dass vor allem seine Bücher und natürlich die Neugier der Leser, ihn zu erleben, die Lesungen füllen. Imre Kertész kann sich aber auch noch an andere Zeiten erinnern. So wie die Buchmesse 1991, von der ihm eine spärlich besuchte Lesung in Erinnerung geblieben ist. Was er aber vor allem der Tatsache zuschreibt, dass am gleichen Abend Hans Mayer zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder in Leipzig war. Nachzulesen ist die kleine Episode in dem kleinen Band ?Ich ? ein anderer?.

Kertész las aus seinem neuen Essayband ?Die exilierte Sprache? drei kurze Auszüge. Drei kurze Episoden, die aber ausreichend waren, um die Bandbreite seines Denkens und Schaffens kennen zu lernen. Natürlich spielte auch der gegenwärtige Krieg im Irak eine Rolle. Zunächst aber nur am Rande. Kertész versuchte zu erklären, warum einige osteuropäische Staaten sich so stark an den Vereinigten Staaten orientieren. Dass, so der Autor, rühre von der abwartenden Haltung Westeuropas her, nicht zu wissen, was mit den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes anzufangen sei. Plausibler ist aber die erlebte Erfahrung eines totalitären Systems, das das Pendel zugunsten des amerikanischen Hegemons ausschlagen lässt.

Für Kertész bildet die Erfahrung zweier Totalitarismen die Antriebsfeder seines Schreibens. Sein Überleben der Konzentrationslager von Auschwitz und Buchenwald habe er zunächst nicht richtig verstanden, antwortete er Jan Philip Reemtsma. Erst die stalinistische Wende des Jahres 1956 und der einsetzende Anpassungsdruck auf die Gesellschaft half Kertész, sein Überleben des Holocausts langsam zu verstehen. Reemtsma führte das Gespräch dann auf die Äußerung Kertész‘, Kultur könne als Hemmung der Destruktivität verstanden werden. Trotz dieses Glaubens an ein altes Europa als Kulturbringer lässt sich Kertész von soviel Zutrauen keinen Sand in seine kritischen Augen streuen. Stattdessen bezeichnet er sich lieber als jemand, der das Gute für das Absurde und das Böse für das Normale hält. Somit war auch die letzte effektheischende Frage einer Dame aus dem Publikum beantwortet, die nach der Meinung des Autors zum Irak-Krieg gefragt hatte.

(Steffen Lehmann)

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