Lesung zur Buchmesse: Michael Degen liest aus seinem Roman „Blondi” (Dajana Bajkovic)

22.03.2003, Aula der Alten Nikolaischule

Lesung zur Buchmesse:
Michael Degen liest aus seinem Roman „Blondi“


Schuster, bleib bei deinen Leisten

Meine Erwartungen an die dritte Lesung, die ich auf der diesjährigen Buchmesse besuche, sind hoch. Geschürt worden sind sie von dem Film „Leo und Claire“, in dem Michael Degen in der Hauptrolle als Leo Katzenberger zu sehen ist. Das Besondere an diesem Film sind die Intensität und die Intimität, mit denen der allmähliche, aber stetige Verlust der menschlichen Würde geschildert wird, den die Juden durch den Pogrom erlitten haben. Degen brilliert in seiner Rolle und lässt den Zuschauer beängstigend direkt den Prozess und dessen unausweichliches Ende miterleben. Fasziniert von der Inszenierung lieh ich mir Degens autobiografische Erinnerungen aus. Binnen kürzester Zeit verschlang ich die Geschichte des jüdischen Jungen Michael und seiner Mutter, die die Zeit des Pogroms innerhalb Berlins im Untergrund und in ständiger Flucht überstanden haben.

In der Hoffnung, dass der erste Roman Degens „Blondi“ daran anknüpfen wird, gehe ich in die Alte Nikolaischule. Nicht nur ich habe Erwartungen, denn die knapp 100 Stühle reichen bald nicht mehr aus, so dass diejenigen, die nicht bis 20.45 Uhr gekommen sind, mit einem Stehplatz vorlieb nehmen müssen. Indes frage ich mich, ob Degen die charismatische Ausstrahlung, die er als Schauspieler und Biograf ausgestrahlt hat, auch am Lesepult entwickelt. Noch in meine Gedanken vertieft, erscheint der Künstler, gefolgt von der Moderatorin.

Durch Fragen an den Autor führt sie in dessen Text ein. Degens Motivation für den Roman sei die Frage nach der außergewöhnlichen Beziehung zwischen Opfer und Täter gewesen. Um dies minutiös und real auszuleuchten, habe er nach einem historischen Wesen gesucht, das Hitler sehr nahe gestanden habe und dennoch seiner Blutrünstigkeit zum Opfer gefallen sei. Diese Kombination habe einzig und allein auf die deutsche Schäferhündin Blondi gepasst, da sie im Gegensatz zu Eva Braun sogar in Hitlers Bett schlafen durfte. Außerdem habe Degen beabsichtigt, die Auseinandersetzung des seit Jahrtausenden verfolgten jüdischen Volkes mit seinem Gott nachzuzeichnen.

Um beides unter einen Hut zu bekommen, hat Degen folgende Fabel entwickelt: Während des Zweiten Weltkriegs bekommt ein jüdisches Mädchen von Gott die Chance, am Leben zu bleiben. Nachdem sie im KZ vergast wurde, lässt er sie eine Reinkarnation erfahren. Gott verwandelt sie in eine Schäferhündin, die durch die Liebe, die Hitler zu ihr entwickelt, versuchen soll, ihn zum Guten hin zu verändern.

Man kann nun geteilter Meinung sein, ob diese Idee genial und einfallsreich ist oder einfach nur gegen die Ethik verstößt, mit der man den Pogrom behandelt. Klar jedoch ist, daß diese Fabel, soll sie mehr sein als ein experimenteller Ausflug eines Künstlers in ein anderes Genre, einen außergewöhnlich hohen Grad an Abstraktion und Objektivierung erfordert, um nicht profan und abgeschmackt zu wirken.

Im ersten Abschnitt, den Degen vorliest, beschreibt er mit einem ironisch schmunzelnden Ton und eingestreuten tiefgründigen, philosophischen Sentenzen ein junges Mädchen auf ihrem Transport ins KZ und die Freude, sich nach der beschwerlichen Fahrt endlich duschen zu dürfen. Allgemein bekannte Bilder aus der Literatur wechseln einander ab, beispielsweise die kahl geschorenen blutigen Köpfe der einst orthodoxen Juden, die dumpfen Schritte der auf dem Dach der Baracke patrouillierenden Soldaten oder das Knäuel sich ineinander ringelnder Körper, das in der Gaskammer zu einem einzigen stummen Schrei anhebt.

Die nächsten Textstellen, die Degen vorträgt, erzählen von dem Mädchen, das sich erstmal damit zurechtfinden muss, ein Hund zu sein. Halb aus der Perspektive des Hundes, halb aus der des Mädchens beschreibt es seinen „Onkel Adolf“ und dessen Parteigenossen. Nur wenn es mit Gott Zwiesprache hält, ist es wieder ganz Mensch und muss vernehmen, dass Gott seinem Volk keine Propheten mehr zur Hilfe schicken wolle, da sie sich oft genug seines Vertrauens unwürdig gezeigt hätten. Deshalb „sei er jetzt auf den Hund gekommen“. Der sei ehrlicher als Propheten.

Und in diesem Ton geht es in einem fort. Die ersten Zuhörer verlassen – noch während Degen liest – die kleine Aula. Die meisten bleiben bis zum Schluss. Vor der sich anschließenden Diskussionsrunde entfernen sich weitere Zuhörer. Die Diskussion stockt. Keiner aus dem Publikum hat eine Frage zu stellen, so daß die Moderatorin ein Frage-Antwort-Spiel veranstaltet, in dem sich Degens Weltbild als ein leicht durchschaubares Konstrukt entpuppt, das sich nicht in die Tiefe wagt.

Ich hatte gehofft, dass Degen, einst selbst als Jude der Verfolgung ausgesetzt und dennoch in Deutschland geblieben, durch sein Alter und seine Erfahrung zu neuen Sichtweisen auf diesen Abschnitt der Geschichte gelangt ist. Wohl eher handelt es sich hier aber um einen Schauspieler, der sich, angestachelt durch den Erfolg seiner Biografie, für einen ernst zu nehmenden Schriftsteller hält.

(Dajana Bajkovic)

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